Revue du Mauss permanente (https://journaldumauss.net)

Jürgen Habermas

Wiesbaden, le 5 septembre 2012 :
Discours pour le prix Georg A. Zinn
(édition en langue allemande)

Texte publié le 11 septembre 2012

Le prix Georg August Zinn est attribué tous les deux ans par le SPD de la Hesse à une personnalité qui s’est « engagée de manière exemplaire en faveur de l’État de droit, de la démocratie et de la cohésion sociale ».
Le discours réception de Jürgen Habermas a été prononcé le 5 septembre 2012 et publié le 6 septembre 2012 dans Die Zeit (et également en ligne).

Ich qualifiziere mich für die Entgegennahme dieses Preises wohl in erster Linie durch Anciennität. Ich habe nämlich während des überwiegenden Teils der 19-jährigen Regierungszeit von Georg August Zinn in Hessen gelebt und bin als Bürger dieses Landes vom Aufbruchsgeist dieses Ministerpräsidenten angesteckt worden. Damals war die Parole „Hessen vorn“ für jedermann evident. Es war in der Mitte der zweiten Regierungsperiode, als ich mit meiner Frau und unserem ersten, zwei Monate alten Kind nach Frankfurt kam, um Adornos Assistent zu werden. Erst drei Jahre nach dem Ende des fünften und letzten Kabinetts Zinn habe ich Stadt und Universität wieder verlassen (allerdings nicht ohne noch einmal für zwölf Jahre hierher zurückzukehren und schließlich, bei meiner Emeritierung, von einem anderen Ministerpräsidenten, Hans Eichel, mit einem freundschaftlichen Empfang in seiner Amtsvilla verabschiedet zu werden).

Ich empfinde es als glücklichen Umstand, dass wir in jenen 50er und 60er Jahren als wache Zeitgenossen, selber noch jung, neugierig und lernbereit, die wichtigste Periode der deutschen Nachkriegsgeschichte in Frankfurt und Hessen, gewissermaßen in einem Klima verdichteter Zeitgenossenschaft, erlebt haben. Die Weichen für die wirtschaftliche und die politisch-institutionelle Entwicklung waren, als wir kamen, schon gestellt worden. Aber der Streit um die Prägung der politischen Mentalität der Bundesrepublik wurde am heftigsten in den folgenden anderthalb bis zwei Jahrzehnten ausgetragen – und wir befanden uns mitten in dieser politisch bewegten, kommunikativ und gesellschaftlich dynamischen Umgebung, in einem intellektuell ebenso aufreizenden wie gereizten Milieu. Rückblickend waren es die intensivsten Jahre meines erwachsenen Lebens.

Aber die Hessische SPD zeichnet mich nicht dafür aus, dass ich 83 Jahre alt bin. Der Rückblick soll uns vom Hinsehen auf das drängendste Problem der Gegenwart nicht abhalten ; reden wir also über Europa.

Viele von uns meinen zu spüren, dass die seit 2008 schwelende Krise während dieses Herbstes in eine entscheidende Phase eintritt, weil die bisher verfolgte Politik der kurzfristigen Beruhigung der Finanzmärkte an ihre Grenzen gestoßen ist. Inzwischen ist auch bei den Politikern die Einsicht gewachsen, dass die gemeinsame Währung eine gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik erfordert. Aber das führt einstweilen nur zu europafreundlichen Lippenbekenntnissen. Nach wie vor hoffen die Regierungen, die fälligen ökonomischen Regelungen auf der policy-Ebene unauffällig durchzuwinken, ohne die politischen Institutionen zu verändern. “Schon heute“, so beobachtet der Berliner Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung, „haben die Regierungen der Euro-Länder einen Gutteil der Aufgaben, die eigentlich sie selbst erledigen müssten, auf die Notenbank übertragen – aus schierer Angst davor, dass die Wähler ihren Kurs der Euro-Rettung nicht mehr mittragen.“ (SZ. Vom 30. August 2012) Im Hinblick auf die Anteile der nationalen Einlagen der EZB stellt man fest, dass die Bank mit ihrer Politik, marode Staatsanleihen aufzukaufen, den Pfad zu einer verschleierten „Schuldenunion“ längst eingeschlagen hat. Gleichzeitig dient diese Vokabel im innenpolitischen Hausgebrauch als Schlagstock, um jeden konstruktiven Vorschlag zur Vertiefung der Politischen Union - wie jüngst den Vorstoß von Sigmar Gabriel – zu marginalisieren.

Seitdem Herman van Rompuy am 26. Juni dem Europäischen Rat einen Vorschlag für eine „echte“ Fiskal- und Wirtschaftsunion vorgelegt und daraufhin von den Regierungschefs den Auftrag erhalten hat, diesen Vorschlag bis Dezember auszuarbeiten, sind die Präsidenten des Europäischen Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank mit Plänen für eine „institutionelle Lösung“ der Krise beschäftigt. Den längst erkannten Teufelskreis der Erpressung der Euro-Staaten durch die Finanzmärkte hat jetzt der EU-Kommissar Michel Barnier mit den dürren Worten beschrieben, „dass zuerst der Staat klammen Banken hilft, dadurch aber die Staatsschulden steigen, welche wiederum die Banken kaufen – und weswegen sich deren Lage weiter verschlimmert.“(SZ vom 31. August 2012) Freilich verschweigt der Kommissar, dass bei diesem traurigen Spiel die private Anleger, solange die Erpressung funktioniert, die einzigen Gewinner sind, während die verordnete Sparpolitik nicht die Verursacher der Krise, sondern die breite Masse der ohnehin geschädigten Staatsbürger ungerührt zur Kasse bittet.

Inzwischen nehmen die Ideen für eine gemeinsame Bankenaufsicht und eine Bankenunion, die den Zugang zu Krediten aus dem ESM erleichtern sollen, handfeste Gestalt an. Zudem wissen alle Beteiligten, dass selbst die Lösung der Fiskalkrise die zugrundeliegenden Ursachen gar nicht berührt, nämlich jene strukturellen Ungleichgewichte, die bei gleicher Währung zwischen unabhängigen nationalen Ökonomien verschiedener Wettbewerbsfähigkeit entstehen müssen. Dagegen wird auch die Beachtung derselben haushaltspolitischen Regeln auf Dauer nichts ausrichten. In einem bemerkenswerten Artikel für die aktuelle Ausgabe der „Zeit“ geht Mario Draghi einen Schritt weiter. Für eine echte Fiskal- und Wirtschaftsunion bedürfe es eines politischen Fundamentes, damit alle Mitgliedstaaten nach der Maxime verfahren, „dass es weder legitim noch ökonomisch tragbar ist, wenn die Wirtschaftspolitik einzelner Länder über Grenzen hinweg Risiken für die Partner in der Währungsunion mit sich bringt.“ (Die Zeit vom 30. August 2012) Draghi sieht, dass „die gemeinsame Ausübung von Souveränitätsrechten“ eine Verbreiterung der Legitimationsbasis nötig macht. Das aber berührt die Schmerzgrenze, die alle Regierungen einstweilen ängstlich meiden - die erneute Debatte über eine Veränderung der europäischen Verträge. Es ist kein Zufall, dass die Initiativen und Anregungen für eine institutionelle Lösung von hohen Funktionären ausgeht, die sich keiner Wahl stellen müssen.

Wenn meine Situationsbeschreibung stimmt, steuern wir auf ein Dilemma zu. Auf der einen Seite verstärkt sich unter dem Druck der Finanzmärkte die Tendenz, die von den ökonomischen Experten entworfene Blaupause für eine echte Fiskal- und Wirtschaftsunion umzusetzen. Jedenfalls werden die wirtschaftlichen Imperative, die die Arbeiten an einer neuen „institutionellen Architektur“ auf Trab gebracht haben, so oder so erfüllt werden müssen. Daraus ergibt sich allerdings eine Konsequenz, vor der die zuständigen Politiker einstweilen zurückschrecken. Die Souveränitätsrechte, die im Zuge des geplanten fiskalischen Umbaus den nationalen Parlamenten genommen werden, müssten auf europäischer Ebene wiederum einem demokratischen Gesetzgeber übertragen werden. Sie können nicht von den versammelten Regierungschefs allein wahrgenommen werden ; denn der Europäische Rat wird nicht von den europäischen Bürgern in ihrer Gesamtheit gewählt. Andernfalls verstoßen wir gegen das Prinzip, dass der Gesetzgeber, der über die Verteilung von Staatsausgaben beschließt, mit dem demokratisch gewählten Gesetzgeber identisch ist, der für diese Ausgaben Steuern erhebt.

Ich fürchte freilich, dass wir genau diesen Preis für eine technokratische Lösung der Krise entrichten sollen. Die Regierungen werden die nötigen Befugnisse auf europäischer Ebene konzentrieren, um „die Märkte“ zu befriedigen ; aber gleichzeitig wollen sie versuchen, die wahre Bedeutung dieses Integrationsschrittes vor dem heimischen Wählerpublikum herunterzuspielen, weil sie für die Vertiefung der Politischen Union nicht einmal mehr in den Ländern Kerneuropas mit der bisher üblichen passiven Folgebereitschaft rechnen dürfen. Nach diesem Szenario befinden wir uns auf dem postdemokratischen Wege zu einem marktkonformen, d.h. auf Finanzmarktimperative zugeschnittenen Exekutivföderalismus. Dabei würde nicht nur die Demokratie auf der Strecke bleiben ; wir würden gleichzeitig die Chance verspielen, die Finanzmärkte, wenn auch zunächst nur innerhalb eines Wirtschaftsraums kontinentalen Ausmaßes, zu regulieren. Eine europäische Exekutive, die sich gegenüber einer demokratisch mobilisierbaren Wählerschaft vollends verselbständigt, verliert jedes Motiv und auch die Kraft zur Gegensteuerung.

Gewiss gibt es für das Zögern von Regierungen und Parteien gute Gründe. Bisher ist das europäische Projekt über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg mehr oder weniger von den politischen Eliten allein vorangetrieben worden. Und die Bürger waren’s zufrieden, solange die EU eine Gewinngemeinschaft war. Nun aber hat die Eurokrise, die sich auf die nationalen Wirtschaften verschieden auswirkt und aus der Sicht nationaler Öffentlichkeiten polarisierend wahrgenommen wird, überall den euroskeptischen Rechtspopulismus verstärkt. Die Umfragen belegen, dass heute Mehrheiten für eine fällige Vertragsänderung nicht leicht zu gewinnen sind. Aber bevor wir diese Stimmungslagen resignativ als Gegebenheiten hinnehmen, sollten wir uns zunächst an die normative Betrachtungsweise erinnern, wonach politische Wahlen und Abstimmungen etwas anderes bedeuten als demoskopische Umfragen.

Wahlen und Abstimmungen sollen nicht nur ein Spektrum bestehender Vorlieben abbilden, sondern Urteile über die Programme und die Personen, die zur Wahl stehen. Sie dürfen den Willen des Volkes nicht unreflektiert ausdrücken, denn sie haben auch einen kognitiven Sinn. Die Regierung muss auf der Grundlage solcher Richtungsentscheidungen drängende Probleme bearbeiten. In einer Demokratie genügen politische Wahlen nicht ihrer systemischen Bestimmung, wenn sie bloß die Verteilung von Präferenzen und Vorurteilen registrieren. Wählervoten erlangen das institutionelle Gewicht von staatsbürgerlichen Entscheidungen eines Mitgesetzgebers erst dadurch, dass sie aus einem öffentlichen Prozess der Meinungs- und Willensbildung hervorgehen, wobei dieser Prozess vom öffentlichen Für und Wider frei flottierender Meinungen, Argumente und Stellungnahmen gesteuert wird. Die Meinungen der Bürger sollen sich aus der dissonanten Springflut von Beiträgen im Lichte eines öffentlich artikulierten Meinungsaustausches erst herausbilden.

Idealerweise wurzelt die deliberative Politik in einer Bürgergesellschaft, die von ihren kommunikativen Freiheiten einen anarchischen Gebrauch macht. Aber in unseren weiträumigen, vom Kommunikationsnetz der Massenmedien erst hergestellten Öffentlichkeiten bedarf es nicht nur der Informationen und Anstöße vonseiten einer spontanen und unabhängigen Presse, sondern in erster Linie der Initiative, der Aufklärung und der Organisationsfähigkeit von politischen Parteien. Diese haben in der Bundesrepublik einen entsprechenden Verfassungsauftrag. Ich bin heute Abend zu Gast bei einer politischen Partei. Es ist aber keine Höflichkeit, sondern für Sie wohl eher eine Zumutung, wenn ich sage, dass heute das politische Schicksal Europas vor allem an der Einsicht und der normativen Empfindlichkeit, am Mut, an dem Ideenreichtum und an der Führungskraft der politischen Parteien hängt, in zweiter Linie freilich auch an der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit der politischen Leitmedien.

Vom grünen Tisch aus lässt sich das leicht sagen. Erstens sind Parteien durch die Aufgaben des politischen Machterwerbs und -erhalts dazu genötigt, im Zeitmaß von Wahlperioden zu planen und zu handeln ; sie gehen zusätzliche Risiken ein und haben diese zu verantworten, wenn sie das Gewicht ihrer pragmatischen Entscheidungen an weiter ausgreifenden, an historischen Zielsetzungen relativieren. Ferner operieren sie unter den Legitimationserwartungen nationaler Arenen, die sich noch kaum füreinander geöffnet haben ; so dürfen Parteien keine Belohnungen erwarten, wenn sie, bevor überhaupt ein europäisches Parteiensystem besteht, gleichzeitig national und europäisch denken und handeln. Schließlich schnürt die nationale Parteienkonkurrenz den Entscheidungsspielraum für die Koalitionen ein, die sich im Hinblick auf Alternativen in der Europapolitik anbieten. Ein aktuelles Beispiel ist die missliche Lage der SPD vor dem Bundestagswahlkampf. Keine Partei kann es sich leisten, als erste mit pro-europäischen Parolen aus der Deckung zu kommen, ohne von kurzsichtigen Konkurrenten, die tatsächlich ähnliche Ziele verfolgen, eine populistische Abstrafung befürchten zu müssen.

Heute entzieht sich die politische Meinungs- und Willenbildung der breiten Bevölkerung über die folgenreiche Alternative eines Mehr oder Weniger an Europa dem üblichen demoskopisch-kommerziellen Zugriff. Sie verlangt von den politischen Eliten einen ganz anderen, einen argumentativen und führungsstarken, einen mentalitätsprägenden Politikmodus. Es geht, im Bewusstsein der Fallibilität, um Überzeugungsarbeit. Man kann den Parteien keinen Vorwurf daraus machen, auf diese außerordentliche Situation nicht vorbereitet zu sein. Aber in außerordentlichen Situationen kann das offene Eingeständnis eines Dilemmas auch ein erster Schritt zu dessen Bewältigung sein.

NOTES