Marcel Mauss n’était pas qu’un homme de science, le fondateur de l’ethnologie française. C’était un chaud partisan du socialisme démocratique (et associationniste), celui qu’incarnait Jaurès, dont il était l’ami.
Cet article est extrait d’un ouvrage co-dirigé par Stephan Moebius et Gerard Schäfer. Nous remercions Stephan Moebius de nous avoir autorisés à le reproduire.
Stephan Moebius/Gerhard Schäfer (Hrsg.): Soziologie als
Gesellschaftskritik. Festschrift für Lothar Peter., Hamburg: VSA, p. 142-160.
Marcel Mauss’ »Ausflüge ins Gebiet des Normativen« (Mauss 2006) sind hierzulande kaum bekannt und bislang nur wenig diskutiert worden [1]. Dabei hat er nahezu 200 politische Texte verfasst [2]. Obgleich Mauss der Meinung ist, Politik gehöre nicht in den Hörsaal, so ist sie doch für ihn nicht weniger wichtig. Nur dürfe man seiner Meinung nach, trotz des gemeinsamen Gegenstands der Gesellschaft, Politik und Soziologie nicht miteinander verwechseln (OE, 3: 234). Dabei lenkt Mauss die Überzeugung, dass der Bereich des Sozialen eine Vorherrschaft über das
Politische und über das Ökonomische besitzt (Tarot 2003: 80) [3]. In diesem Sinn ist auch die »soziale Frage« in seinen Augen nicht allein eine ökonomische und politische Frage, siebeschränkt sich ebenso wenig auf die zwar wesentliche, aber nur einen Teilaspekt berücksichtigende Arbeiterfrage, vielmehr ist die soziale Frage für ihn eine totale Frage, da sie religiöse, politische, juridische, moralische etc. Probleme beinhaltet (EP: 73). Insofern findet sich bei Mauss auch weniger eine politische als vielmehr eine soziale Utopie: Sein Ziel ist die Veränderung der konkreten und gesamten Gesellschaft und der Individuen (EP: 76f.), d.h. ihrer Märkte, ihres Konsums, ihres Denkens, ihrer Gruppen, der sozialen Beziehungen, ihrer Werte sowie des Menschen im Ganzen und nicht bloß die Veränderung der politischen Institutionen und Gesetze.
Der folgende Beitrag geht dem politischen Denken von Marcel Mauss anhand seiner zentralen politischen Schriften und Aktivitäten nach. Im Einzelnen werden sein erster politischer Beitrag L’Action socialiste, seine Prägungen durch Jean Jaurès, seine »soziologische Beurteilung des Bolschewismus« sowie sein Begriff der »Nation« vorgestellt. Zuvor will ich jedoch in einem knappen biographischen Überblick das politische Engagement von Mauss darstellen.
Während seines Studiums in Bordeaux beginnt der 1872 in Épinal zur Welt gekommene Marcel Mauss sich für sozialistische Ideen zu begeistern [4]. Bei Treffen des Cercle d’études sociales diskutiert er mit anderen Studenten über Marx’ Kapital und gemeinsam mit der französischen Arbeiterpartei, der Parti ouvrier français (POF), laden sie Jean Jaurès zu einer Tagung ein [5]. Das, was sein Onkel Émile Durkheim für sein wissenschaftliches Leben bedeutet, wird Jaurès im Feld des Politischen für ihn sein. Die Mitglieder der Studiengruppe sind noch sehr guesdistisch geprägt [6]. Mauss tritt in die Parti ouvrier français ein. Darüber hinaus besucht er Treffen der Groupe des étudiants socialistes.
1895 geht Mauss nach Paris, um sich an der Sorbonne auf seinen Abschluss in Philosophie vorzubereiten. Auch in der Hauptstadt ist er politisch sehr aktiv: Zusammen mit Albert und Edgar Milhaud gründet er die Ligue Démocratique des Écoles. Darüber hinaus engagiert er sich in der Groupe des étudiants collectivistes. Sowohl vom Guesdimus als auch vom Anarchismus abgewandt, setzen sich die Studenten für einen humanistischen und wissenschaftlich fundierten Sozialismus
ein. Ein weiteres politisches Aktionsfeld von Mauss bildet seine Mitarbeit bei der 1895 von Alfred Bonnet ins Leben gerufenen Zeitschrift Le Devenir social. »Diese Zeitschrift, die sich als ›Revue
international d’économie, d’histoire et de philosophie‹ verstand, hatte als Motto einen Satz von Marx gewählt: ›Die Produktionsweise des materiellen Lebens bestimmt allgemein die
Entwicklung des sozialen, politischen und intellektuellen Lebens.‹ Sie veröffentlichte bedeutende Untersuchungen von russischen (Lavroff), italienischen (Ferri, die beiden Labriola), deutschen
(Kautsky) und englischen (Aveling) Sozialisten, Texte von Sorel und Lafargue, vor allem aber die in Frankreich bisher nicht erschienenen Arbeiten von Marx und Engels.« (Réberioux 1975: 75)
Seit dem Herbst 1897 stellt die kritische Öffentlichkeit die 1894 vollzogene Verhaftung von Alfred Dreyfus immer mehr in Frage. Es kommt zur so genannten »Dreyfus-Affäre«, die zahlreiche französische Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler dazu veranlasst, gegen die
unrechtmäßige Verurteilung des jüdischen Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfus und allgemein gegen die Verletzung der Menschenrechte einzutreten (vgl. Peter 2001). Mauss politisches Denken ist seit der Affäre geprägt von einem zunehmenden politischen Engagement [7].
Die Dreyfus-Affäre ist nicht nur für die Konsolidierung der dritten Republik von Bedeutung. Durch sie kommt es auch innerhalb der Durkheim-Schule zu Integrationsmomenten, die den
Zusammenhalt der Gruppe um Durkheim festigen, das heißt, die Einheit der sich erst formierenden Mannschaft um ihn wird durch die Affäre gestärkt. Durkheim selbst engagiert sich aktiv für die Freilassung von Dreyfus und beteiligt sich im Februar 1898 an der Gründung einer
Menschenrechtsliga. Es geht ihm weniger um politische als um moralische Fragen. Seine Schüler und Mitarbeiter gruppieren sich um Charles Andler, Léon Blum und Lucien Herr, Bibliothekar auf Lebenszeit an der École normale supérieure. Viele der Durkheim-Schüler engagieren sich in Herrs neu gegründeter. Ausgehend von dieser Gesellschaft wird die École socialiste gegründet, an der sich Mauss mit François Simiand und Paul Fauconnet beteiligt (vgl. Prochasson 1993: 122); in diesem Rahmen entsteht auch die von Simiand geleitete Zeitschrift Notes critiques: sciences sociales (1900-1906). Mauss arbeitet bei der Zeitschrift Le mouvement socialiste mit. Sein erster Text in dieser Zeitschrift vom 15. Oktober 1899, ein vor der Groupe des étudiants collectivistes de Paris gehaltener Vortrag, behandelt die L’action socialiste, von der später noch die Rede sein wird. Seit diesem Zeitpunkt beginnt Mauss’ »Karriere« im politischen Journalismus. Das vornehmliche Agitations-Feld von Mauss ist jedoch die
Genossenschaftsbewegung.
1896 tritt er in eine der in den 90er Jahren aus dem Boden geschossenen Konsumgenossenschaften mit dem Namen L’Avenir de plaisance ein. 1898 werden Volksuniversitäten ins Leben gerufen, um neben der Genossenschaftsarbeit die Erziehung und die Annäherung von Intellektuellen und Arbeitern zu initiieren (vgl. Winock 2003: 114). Es folgen 1899 die Gründungen der Écoles socialistes, die ebenfalls die Arbeiterbildung zum Ziel haben und bei denen sich Mauss engagiert (Prochasson 1993: 63).
Enthusiastisch ruft er gemeinsam mit Philippe Landrieu im März 1900 eine sozialistischgenossenschaftliche Gesellschaft ins Leben: »Die Bäckerei«. Aber schon bald geraten sie in finanzielle Schwierigkeiten und müssen die Bäckerei schließen. Mauss verliert viel Geld dabei.
Er schreibt für Le mouvement socialiste, Notes critiques und später für L’Humanité, eine 1904 von ihm mitbegründete Zeitung. Dort erscheinen von ihm zahlreiche Artikel zur internationalen Genossenschaftsbewegung. Mauss glaubt an die Kraft der Genossenschaften, sozialreformerisch auf den Kapitalismus einzuwirken. In L’Hunmanité schreibt er über das Leben der Genossenschaftler, die seiner Meinung nach eine Pionierrolle einnehmen. Sie seien es, die hier und jetzt einen »praktischen Sozialismus« verwirklichen und in der Praxis beweisen müssen, was der Sozialismus theoretisch propagiert. In Genossenschaftskreisen nennt man ihn wegen seines Engagements »Citoyen Mauss« (vgl. EP: 100ff.)
Als im April 1905 die schon länger in den sozialistischen Bewegungen bestehenden Einheitsbestrebungen durch die Gründung der Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) erfüllt werden (vgl. Willard 1981: 89ff.), tritt Mauss »aus Respekt vor Jaurès« in die neue Partei ein. wird zudem einer der ersten zehn Repräsentanten des Parteivorstands. 1906 macht er sich als »Sprecher von Jaurès« zu einer Reise nach St. Petersburg und Moskau auf, um die russische Revolution zu beobachten und sich dort mit den Revolutionären zu treffen (Fournier 1994: 271ff.). Aber als Mauss ankommt, löst der Zar gerade die Duma auf; die politische Reise wird nutzlos, er kehrt unverrichteter Dinge zurück.
Durch ein Attentat wird am 31. Juli 1914 Jean Jaurés erschossen (vgl. Goldberg 1968: 458ff.) und mit ihm die »ganze Bewegung«, wie Stefan Zweig urteilt. Mauss ist zutiefst erschüttert von dem Verlust seines Freundes. Jaurès’ Tod markiert allerdings nur den Beginn weiterer Abschiede von seinen Freunden, die direkt oder indirekt Opfer des Ersten Weltkriegs werden. Noch ein Jahr zuvor hatte Mauss über das deutsch-französische Verhältnis lediglich von einem Konflikt
gesprochen (EP: 205-209), nun wird der Konflikt im August 1914 zum Krieg. Mauss ist einer der ersten, der sich freiwillig zum Militärdienst meldet.
Der Krieg dauert jedoch länger, als alle vermuten. Mauss schreibt in den ersten Jahren an einem unvollendet bleibenden Manuskript Über die Politik. In den Kriegsjahren werden viele Freunde und Mitarbeiter von Mauss und Durkheim getötet.
Neben der Arbeit an der Herausgabe der Schriften seiner verstorbenen Freunde widmet sich Mauss weiterhin der Politik. Er publiziert zahlreiche Artikel in der Zeitung Le Populaire, bei der er auch im Vorstand sitzt, sowie für La Vie socialiste und L’Action cooperative. Wie Marcel Fournier (2006) hervorhebt, müssen die politischen Artikel dieser Zeit im Zusammenhang mit Mauss’ Studie über die Nation gesehen werden, von der er 1920 erste Teile in Oxford vorstellt. Auch das Genossenschaftswesen nimmt zu dieser Zeit erneut großen Raum ein. Bis 1925 ist er Mitglied des Office technique de la Féderation nationale des cooperatives des consommation (FNCC).
Im Februar und März 1923 veröffentlicht Mauss mehrere Beiträge über den Bolschewismus und die Gewalt (vgl. EP: 509-531). Er ist tief enttäuscht vom Ausgang der russischen Revolution und kritisiert das zunehmende Blutvergießen, das in seinen Augen eigentlich jeder Sozialist zu verabscheuen habe. Mit den begangenen »Irrtümern« der Revolution befasst er sich dann eingehender in der 1924 publizierten »soziologischen Beurteilung des Bolschewismus« (EP: 537ff.).
Gegen Ende der zwanziger Jahre verringern sich seine politischen Beiträge. Mitte der dreißiger Jahre denkt er andauernd und mit Furcht an die Möglichkeit eines neuen Krieges. auch im Inneren Frankreichs brodelt es und rechtsextreme Gruppierungen bekommen immer mehr Zulauf. Mauss beschließt, sich im antifaschistischen Widerstand zu engagieren und unterstützt sowohl das Comité de Vigilance des Intellectuels Antifascistes als auch das Comité mondial contre la guerre et le fascisme. Er gehört jedoch nicht zu den »Anti-Münchenern«, die, wie beispielsweise das Collège de Sociologie, im Münchener Abkommen von 1938 lediglich einen »Scheinfrieden« besiegelt sehen (vgl. Moebius 2006a) Er will sich die Hoffnung nicht nehmen lassen, und in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg setzt er sich dafür ein, mit allen Mitteln einen erneuten Krieg zu verhindern.
Zahlreiche Schüler von Mauss gehen in den Widerstand. Besonders hervorzuheben ist hier Anatole Lewitzky, der auch am Collège de Sociologie beteiligt war und 1940 zusammen mit seiner Verlobten Yvonne Oddon eines der ersten Widerstandsnetzwerke der Résistance aufbaute. Lewitzky ist Forscher am Musée de l’Homme und wird von dem Direktor des Museums, Paul Rivet, unterstützt. Als Lewitzky und seine Helfer 1941 verhaftet werden, versucht Mauss zu intervenieren. Doch es nützt nichts. 1942 erschießt man Lewitzky, seinen Freund Boris Vildé und Yvonne Oddon.
Mauss wird im gleichen Jahr aus seinem Appartement vertrieben, das daraufin ein deutscher General bewohnt. Die Mauss ziehen in eine kleine Parterrewohnung. Durch die internationale Reputation und die Bekanntschaft mit deutschen Wissenschaftlern ist Mauss glücklicherweise weitestgehend vor den Nazis sicher.
Nach dem Krieg ernennt man Mauss zum Ehrenprofessor des Collège de France. Es beginnt seine letzte Zeit, die »Zeit des Schweigens«. Zurückgezogen in seiner Wohnung in der Cité Universitaire empfängt er nur wenige Gäste. An die Namen seiner Schüler, die ihn besuchen, kann er sich kaum erinnern. Man hat Angst, er könnte sich beim Spazieren gehen verirren. »Diesmal überlebte Mauss’ Verstand das Martyrium nicht.« (Dumont 1991: 201) Geschwächt von einer Bronchitis entschläft Mauss mit 77 Jahren am 11. Februar 1950.
1899 publiziert Mauss in Le Mouvement socialiste seinen ersten politischen Text, L’Action socialiste [8]. Allein eine »sozialistische Aktion« kann ins seinen Augen die Gesellschaft zum Besseren
verändern. Dabei geht es weniger allein um die Schaffung neuer Gesetze oder politischer Institutionen, sondern die Veränderung müsse vielmehr die ganze Gesellschaft in all ihren Teilen (mental, juristisch, ökonomisch, politisch etc.) betreffen. Folgerichtig ist für Mauss die
sozialistische Aktion in erster Linie eine soziale Aktion (EP: 72ff.). Eine soziale Aktion, die vor allem rational und humanistisch zu sein hat und die erst im zweiten Schritt auch eine psychische (EP: 76), eine juridische, politische und ökonomische Aktion ist.
Bereits in dieser Sozialismus- Konzeption kann man Mauss’ Begriff des »sozialen Totalphänomens« erkennen (vgl. Chiozzi 1983: 660f.). So repräsentiert der Sozialismus für ihn auch nicht nur eine Klasse der Gesellschaft, sondern ist bezogen auf die Gesellschaft als Ganze. »Der Klassenkampf – diesen Ausdruck verwendet Mauss nur selten – gegen die Bourgeoisie ist Kampf gegen den Parasitismus gewisser Sektoren der Gesellschaft, er ist Kampf gegen den Klerikalismus, den Militarismus und den Nationalismus; er hat zweifellos nicht das Ziel, wenn er von einer sozialistischen Aktion den Ausgang nimmt, die Herrschaft einer Klasse durch die Herrschaft einer anderen Klasse zu ersetzen.« (Chiozzi 1983: 661) Ähnlich wie Durkheim denkt Mauss an ein klassenloses System auf Basis von Verbänden und Berufsgruppen. Sein Augenmerk
gilt hierbei besonders den Genossenschaftsbewegungen. Allerdings vertritt er die Meinung, dass der Sozialismus oberstes Prinzip der Genossenschaften und der Syndikate, denen man ja auch
ohne dezidiert sozialistische Überzeugung angehören kann, zu sein habe (EP: 80).
Mauss’ sozialistische Aktion ist in ihren Grundzügen sozialreformerisch; peu à peu sollen die kapitalistischen Strukturen von innen her modifiziert werden. Deutlich sind die Bezüge zu Jean Jaurès. Für Jaurès muss die sozialistische Gesellschaft nicht aus einer Revolution, sondern aus der gegenwärtigen Gesellschaft heraus wachsen. »Kein Kunstgriff, kein überraschender Mechanismus erspart dem Socialismus die Pflicht, durch die Propaganda und auf gesetzlichem Wege die Majorität des Volkes für sich zu gewinnen.« (Jaurès in Willard 1981: 130)
Drei »Orientierungen« sind für Jaurès’ politisches Denken wesentlich (vgl. Willard 1981: 88ff.): Erstens verteidigt er die Demokratie und den Republikanismus, da sie unüberschätzbare Werte
darstellen; der Sozialismus muss eine republikanische Bewegung sein, gleichsam die Vollendung der Französischen Revolution unter neuen ökonomischen Bedingungen [9].Zweitens hat er ein »Bedürfnis nach Einheit«, das sich in seinen Bestrebungen, eine Einheit unter den sozialistischen Parteien herbeizuführen, bezeugt. Drittens wird nach 1905 »Jaurès’ Weg von seinem Haß gegen den Krieg und den Kolonialismus bestimmt.« (Willard 1981: 89)
Mauss besucht Jaurès regelmäßig (vgl. EP: 317ff.). Dieser ist für Mauss ein sehr guter Freund und Diskutant, vor allem aber ein politisches Vorbild. Jaurès’ sozialreformerische politische Haltung prägt Mauss’ gesamtes politisches Denken und seine Auffassung des Sozialismus, wobei Mauss besonders an die refomerische Kraft des sozialistischen Genossenschaftswesens glaubt [10]. In L’Humanité schreibt Mauss über das Leben der Genossenschaftler, die seiner Meinung nach eine Pionierrolle haben. Sie seien es, die hier und jetzt einen »praktischen Sozialismus« verwirklichen und in der Praxis beweisen müssen, was der Sozialismus theoretisch propagiert.
Einige seiner damaligen Freunde, darunter Lucien Herr, Charles Andler und Edgar Milhaud publizieren ebenfalls in der L’Humanité. Ausgehend von Jaurès’ Analysen wird der republikanische Staat von ihnen und anderen Sozialisten nicht so sehr als eine Institution der
herrschenden Klasse betrachtet, sondern vielmehr als ein »Ort angesehen, wo es möglich erschien, im Sinne der Demokratie so zu handeln, dass der Weg zum Sozialismus eröffnet würde.« (Rebérioux 1975: 72)
Versucht man, die politische Einstellung von Mauss auf einen Punkt zu bringen, so könnte man sagen: Durkheim, ebenfalls ein lebenslanger Freund von Jaurès (Lukes 1973: 44), sensibilisiert seinen Neffen für die soziale Frage und für den Sozialismus, aber erst Jaurès gibt den politischen Vorstellungen von Mauss ihre endgültige Kontur. Wie Mauss in der Einführung zu Durkheims Le socialisme [11]schreibt, sympathisierte sein Onkel zwar mit dem Sozialismus, aber er gab sich ihm niemals hin. Hierin unterscheiden sich Durkheim und Mauss (Fournier 1997: 12).
Der Neffe bewundert Jaurès’ Kultiviertheit, dessen Humanismus sowie dessen Abscheu vor jeder totalitaristischen Tendenz (Tarot 2003: 83). Von ihm übernimmt Mauss die Ansicht, der Sozialismus sei kein Werk einer einzelnen Klasse, sondern sei ein soziales Totalphänomen, das alle angeht.
Wie Durkheim und Jaurès will Mauss den Sozialismus aber nicht nur auf die Ökonomie beschränkt wissen, sondern der Sozialismus soll eine neue Art zu denken und zu handeln, d.h. eine neue »mentale Haltung« herbeiführen (vgl. Birnbaum 1972: 43); er soll zu einem, die gesamte Gesellschaft angehenden sozialen Totalphänomen werden. Mauss’ Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft ist dabei durchweg demokratisch und republikanisch geprägt. Nur friedliche Mittel können die Veränderungen herbeiführen (EP: 209). Insgesamt gesehen vertritt er einen an Jaurès’ Vorstellungen orientierten demokratischen und humanistischen Sozialismus.
Als im April 1905 die schon länger in den sozialistischen Bewegungen bestehenden Einheitsbestrebungen durch die Gründung der Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) erfüllt werden (vgl. Willard 1981: 89ff.), tritt Mauss »aus Respekt vor Jaurès« in die neue Partei
ein. Jaurès war es maßgeblich zu verdanken, diese Einheit hergestellt zu haben (vgl. Rebérioux 1975: 97). Mauss wird zudem einer der ersten zehn Repräsentanten des Parteivorstands. 1906
macht er sich als »Sprecher von Jaurès« zu einer Reise nach St. Petersburg und Moskau auf, um die russische Revolution zu beobachten und sich dort mit den Revolutionären zu treffen
(Fournier 1994: 271ff.). Aber als Mauss ankommt, löst der Zar gerade die Duma auf; die politische Reise wird nutzlos, er kehrt unverrichteter Dinge zurück. Aus der französischen Republik, die Mauss 1910 als eine »demi-democratie« bezeichnet, will er eine soziale Demokratie machen, »sozial« im weitesten, das heißt: »totalen« Sinne. Hierfür müsse man, wie er 1922 schreibt, zugleich »die Republik von heute erhalten und die Republik von morgen aufbauen« (EP: 465) [12].
Diese Grundhaltung prägt auch Mauss’ Sicht auf die russische Revolution von 1917 und den Bolschewismus [13]. Zunächst ist Mauss von der russischen Revolution begeistert und begrüßt das »bolschewistische Experiment« euphorisch als eine neue historische Epoche (vgl. Hadricourt 1972: 89). Schon bald aber stellt sich für ihn die Frage, ob der Bolschewismus den Sozialismus bestätigt oder widerlegt. Um diese, für Mauss sehr wichtige und mit viel Emotionen verbundene Frage zu beantworten, beginnt er 1923 eine soziologische Abhandlung über den Bolschewismus zu schreiben (vgl. EP: 537ff.), 1925 kommt ein Artikel über Sozialismus und Bolschewismus in Le Monde slave (vgl. EP: 699ff.) nach. Den Jahren des unmittelbaren politischen Engagements vor dem Ersten Weltkrieg folgt ein vertieft wissenschaftlich orientiertes Engagement, die journalistischen Beiträge werden seltener; seine Aufmerksamkeit gilt nun einer »Soziologie der Politik« (Chiozzi 1983: 665).
Mauss’ soziologische Beurteilung des Bolschewismus kommt zu dem Schluss, der Bolschewismus sei in seiner Gesamtheit gesehen kein sozialistisches Experiment/Erfahrung [expériment] (EP: 538, 711, Chiozzi 1983: 668), denn der Sozialismus könne nur das Werk eines bewussten allgemeinen Willens [volonté générale] aller Staatsbürger sein (EP: 539) [14]. Der Bolschewismus sei hingegen nicht aus einem bewussten, rationalen Akt aller, sondern aus der »Katastrophe« heraus entstanden (EP: 539, 711, 721). Der größte Fehler der Bolschewiken, diesen »naiven Soziologen« (EP: 553) und »romantischen Marxisten«(EP: 555), liege in dem Glauben, eine Minderheit könne ein neues politisches System mit Gewalt herbeizwingen. Zudem komme noch, so Mauss weiter, dass sich Faktoren wie Krieg, inneres Chaos und wirtschaftliche Blockade Russlands der bewussten Kontrolle der Protagonisten entzogen (vgl. Chiozzi 1983: 668). Das Volk sei darüber hinaus – aus mangelnder politischer Erziehung – noch nicht reif für die Revolution gewesen. Dies alles sind für Mauss Gründe des Scheiterns des Bolschewismus. Ferner habe er genau das zerstört, was die Ökonomie ausmache: den Markt (EP: 541).
Mauss hält in einer gewissen Weise am Liberalismus fest, sein sozialreformerischer Sozialismus strebt nicht die Zerstörung des liberalen Marktes an, sondern zielt in ökonomischer Hinsicht –
wie man besonders gegen Ende des Essays über die Gabe herauslesen kann – auf eine Art sozialdemokratischer »Sozialisierung« des Marktgeschehens. »Sein Projekt sieht einem sozialdemokratischen Programm, das einen Wohlfahrtsstaat zu begründen versucht, zum Verwechseln ähnlich« (Fournier 1997: 38).
Bereits Durkheim definierte den Sozialismus als eine »nationale Kontrolle der ökonomischen Macht« (OE, 3: 638) [15]Mauss schließt daran an, für ihn ist »Sozialismus« ein »Ensemble kollektiver Ideen, Formen und Institutionen, deren Funktion darin liegt, die kollektiven ökonomischen Interessen der Nation durch die Gesellschaft, sozial, zu regeln.« (EP: 260) Der Sozialismus sei verbunden mit der Nation sowie er die »ökonomische Realisierung der Demokratie« darstelle (EP: 261). Nicht in der Unterdrückung des Marktes, sondern in seiner Organisierung liege der Weg des Sozialismus (EP: 542), der sich nur mit einem gewissen Maß an Individualismus und
Liberalismus verwirklichen lasse, so Mauss (EP: 544). Sozialismus müsse sich durch Reformen inmitten des Kapitalismus entwickeln; er ist nicht erst durch eine Revolution möglich. Ein Weg dieses »Sozialismus im Kapitalismus« sieht Mauss in den Genossenschaften.
Die sozialreformerische Sichtweise findet sich bei Mauss bereits in jungen Jahren, beispielsweise als er sich trotz scharfer Kritik seitens anderer Genossenschaftler für die Errichtung von Banken
der Arbeitergenossenschaften einsetzt (vgl. Desroche 1979: 222ff., Chiozzi 1983: 659). So sind für ihn – wie er im Juli 1900 auf dem ersten nationalen und internationalen sozialistischen
Genossenschaftskongress in Paris vorträgt (EP: 100ff.) – die kurz- und mittelfristigen Ziele der sozialistischen Arbeiter- und Genossenschaftsbewegung – neben dem Austausch von Veröffentlichungen, dem Aufbau einer Zeitschrift der Arbeitergenossenschaften oder der gegenseitigen Unterstützung auf internationaler Ebene (EP: 103f.) – die Schaffung einer
internationalen Bank der Arbeitergenossenschaften (ähnlich wie bei den englischen Genossenschaften), die Organisationen eines Versicherungssystems und die Errichtung von
Krankenkassen (EP: 106ff.). Das Ziel von Mauss ist es, »den Arbeiter zur Vorsorge zu ermutigen, ihm ein wenig Sicherheit in der ›Rabenmutter-Gesellschaft‹ zu schaffen, in der er lebt.« (EP: 111) So erziehe man ihn für seine revolutionäre Aufgabe, in dem man ihm einen Vorgeschmack all der Vorteile gebe, die ihm die zukünftige Gesellschaft bieten könnte. Mauss denkt im Zusammenhang mit seiner Idee einer Bankengründung an die Bildung eines »regelrechten Arsenals von sozialistischem Kapital inmitten des bürgerlichen Kapitals«, das dann zum Nutzen der Veränderung eingesetzt werden könne (vgl. EP: 111). Nach Mauss habe der Sozialismus individuelles Privateigentum zur Voraussetzung (EP: 263). Der Fehler der Sowjets sei es gewesen, dies übersehen und somit nicht den Sozialismus, sondern den Kommunismus errichtet zu haben
(EP: 541) [16].
Ein weiterer Grund, warum der Bolschewismus kein sozialistisches Experiment sei, liege in der systematischen Anwendung von Gewalt und Terror (EP: 540, 546ff.): »Die Kommunisten haben
aus ihr, darin Georges Sorel folgend, einen wahrhaften politischen ›Mythos‹ gemacht, einen Gesetzesartikel.« (EP: 547) Zwar seien die Bolschewiken nicht alleine verantwortlich für die ganze Gewalt, mit der sie in Verbindung gebracht werden, denn sie mussten sich auch national verteidigen. Dennoch sei die Gewalt für das Scheitern der Bolschewiken verantwortlich. Die Diktatur des Proletariats sei zu einer Diktatur der kommunistischen Partei über das Proletariat
geworden (EP: 524) Bei einer guten Politik herrsche ein anderer Zwang als der der Gewalt oder der der Gesetze vor, so Mauss (EP: 549). Metus ac terror sunt infirma vincula caritatis, Furcht und Schrecken sind schwache Bande der Hochachtung, dies habe bereits Tacitus gewusst (EP: 550). Weder Gewalt noch Gesetzgebung können eine sozialistische Gesellschaft herbeiführen; diese müsse vielmehr in einer Veränderung der Normen, der Mentalitäten und kollektiven Gewohnheiten ihre Wurzeln haben.
Trotz seiner Kritik an der unkontrollierten – und angesichts der äußeren und inneren Schwierigkeiten Russlands letztendlich sich jeder bewussten Kontrolle entziehenden (Hobsbawm 2003: 88) – Transformation der russischen Revolution und der von Mauss zutiefst verabscheuten systematischen Gewaltanwendung, konstatiert er eine unbestreitbare Größe der Bolschewiken.
Mauss differenziert zwischen dem »schrecklichen, irrsinnigen und sinistren Regime der Bolschewiken« (EP: 703) und dem anfänglichen Willen und Mut der russischen Revolutionäre. Er
bescheinigt den Akteuren der Revolution eine »intellektuelle und praktische Kühnheit sowie Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit in ihrem Versuch, eine neue Gesellschaft zu formieren« (EP: 703). Die Aktivisten seien Helden, denn sie hätten in einem drei Jahre langen und unsühnbaren Bürgerkrieg, während zwei Jahren äußerer Interventionen ihr Leben und das ihrer Familien riskiert; die moralische Integrität und Unverdorbenheit der Mehrheit der Kommunisten, Arbeiter und Intellektuellen, gemischt mit einer gewissen Anzahl von Bauern und einigenrussischen Adelsfamilien sowie der Verzicht auf einen naiven Internationalismus, dies alles konstituiere ein moralisches Ansehen, auf das die Kommunisten stolz sein könnten und dessen sich die Sozialisten bewusst sein sollten. Alle anderen mit edler Verfassung könnten dem ebenfalls nicht gleichgültig gegenüberstehen (EP: 703).
Mauss hofft noch auf eine positive Wende in Russland, auf eine rekonstruktive Periode. Es wäre weit gefehlt, in Mauss’ Kritik am Bolschewismus eine generelle Verabschiedung des Sozialismus zu erkennen. Er bleibt immer noch Sozialist. »Wie es abwegig wäre, in den russischen Ereignissen eine Bestätigung oder schlagende Widerlegung der allgemeinen Prinzipien des Sozialismus zu suchen, so könnten auch keinerlei Hinweise für unsere Gesellschaft aus dem eventuellen Erfolg des Kommunismus oder sogar des Sozialismus in der russischen Gesellschaft gewonnen werden.« (Chiozzi 1983: 670f.)
Zusammengefasst weist Mauss’ Sichtweise auf den Sozialismus folgende Punkte auf, die für sein politisches Denken insgesamt charakteristisch sind (vgl. auch Tarot 2003: 88f.): Erstens ein gewisser Pragmatismus und Sinn für die Realität, zweitens ein gegen skrupelloses Machtstreben gerichteter Anti-Machiavellismus und drittens die strikte Zurückweisung von Gewalt, sei sie imperialistisch (EP: 124f.), revolutionär, anarchistisch, bolschewistisch oder faschistisch (EP: 510,
527). Mauss ist zwar gegen die Gewalt, aber dennoch für eine Ausübung der Kräfte der Massen: »Contre la violence, pour la force«, lautet seine an Jaurès (EP: 529) orientierte Losung (vgl. EP:
527ff.). Viertens hat nach Mauss jede Nation ihre eigenen Modalitäten und folglich ihre eigenen Wege zum Sozialismus.
Wie definiert Mauss »Nation«? Nation und Gesellschaft sind für Mauss nicht gleichzusetzen. In dem unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verfassten Beitrag La Nation (OE, 3: 573ff.) besteht
Mauss auf der Feststellung, dass nicht alle Gesellschaften Nationen seien (OE, 3: 626). Nationen – sie gehören auch zu den sozialen Totalphänomenen – zeichnen sich nach Mauss durch stabile
Machtverhältnisse sowie durch administrative und legislative Systeme aus; die Rechte der Bürger und des Vaterlands stehen sich gegenüber und komplementieren sich (OE, 3: 626). »Nation« begründe sich weder durch eine Rasse noch durch Kultur; sie leite sich vielmehr von einer bewusst gewollten politischen, juristischen und ökonomischen Einheit und geteilten moralischen Vorstellungen her ab. Für Mauss ist der Begriff der »Nation« positiv besetzt, da sie die Menschen politisch, symbolisch, moralisch, ökonomisch sowie juristisch integriere und zusammenbringe.
Trotz der positiven Konnotation warnt Mauss – hierin wiederum seinem Freund Jaurès ähnlich – vor übermäßigem und pathologischem Nationalismus. Chiozzi interpretiert Mauss’ Position
folgendermaßen: »Die Nation ist der Integrationspunkt par excellence, weil sie dem Individuum das Gefühl seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Menschen vermittelt und ihm damit die Basis seiner Identität geliefert wird, aufgrund deren es seine ›Mitbürger‹ erkennen und sich zugleich von ›anderen‹ unterscheiden kann. Außerdem denunzieren Mauss und Jaurès beide die Exzesse des Nationalismus, deren konkrete Erscheinungsformen der Militarismus, der Rassismus und der Imperialismus sind, die die Beziehungen der verschiedenen Nationen untergraben.« (Chiozzi 1983: 673)
Mauss’ positive Aufladung des Nationenbegriffs ist auch vor einem
intellektuellengeschichtlichen Hintergrund her zu verstehen. Seit der Dreyfus-Affäre bildeten linke Parteilichkeit und nationale Identität – bei Mauss ausgedrückt als überzeugte Identifizierung mit dem Republikanismus und den Werten der Französischen Revolkution – ein Komplementarverhältnis, das dazu führte, »dass sich im öffentlichen Bewusstsein nicht die rechten, sondern die linken Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler als die authentischen Verteidiger der kulturellen Identität und geistigen Freiheit der Nation behaupten konnten.« (Peter 2001: 243).
Die unterschiedlichen Nationen sollten nach Mauss in eine Beziehung gegenseitiger Solidarität treten. Hierbei gelte es, dass jede Nation ihre Eigenart im internationalen Miteinander behalte und nicht, die Nationen im Internationalismus aufzulösen; kurzum, es geht ihm um die
Bewahrung der Differenz in der Äquivalenz. Für Mauss gibt es letztendlich nur drei politische Wege: Einen, der nach Moskau führt, einen zweiten des Nationalismus und einen dritten Weg des
vernünftigen Internationalismus und des Friedens (EP: 384). Er wählt den letzteren und setzt seine Hoffnung auf den Völkerbund. Nur wenn die Nationen lernten zu geben, ohne sich anderen zu opfern, könnten sie friedlich miteinander leben, so Mauss (1999: 182). Und weiter
heißt es: »Man braucht nicht weit zu suchen, um das Gute und das Glück zu finden. Es liegt im erzwungenen Frieden, im Rhythmus gemeinsamer und privater Arbeit, im angehäuften und wieder verteilten Reichtum, in gegenseitiger Achtung und Großzügigkeit, die durch Erziehung erlernbar sind.« (Mauss 1999: 182)
Auf internationaler Ebene könne der Völkerbund eine friedliche Verbindung der Nationen verwirklichen, so Mauss im Jahre 1932 (OE, 3: 639). Noch zu Beginn der dreißiger Jahre glaubt er an den Frieden einer europäischen Föderation, an »Vereinigte Staaten von Europa« (vgl. Fournier 1997: 30).
Sein Optimismus täuscht ihn. Sieben Jahre später, am 6. Mai 1939 räumt er angesichts des Faschismus gegenüber seinem Freund Svend Ranulf ein, dass es gewisse Parallelen zwischen dem von der Durkheim-Schule untersuchten Verhalten archaischer Gesellschaften und dem
Faschismus gebe (siehe die Briefe in EP: 766f.): »Dass große moderne Gesellschaften – wie die Bewohner Australiens durch ihre Tänze – in diesem Ausmaß hypnotisiert werden können […] hatten wir wahrlich nicht erwartet. Diese Rückkehr zum Primitiven war nicht Gegenstand unserer Überlegungen.« Zwei Tage später spezifiziert er, dies alles sei »eine wahrhafte Tragödie für uns, eine überaus starke Verifizierung der von uns angedeuteten Dinge und der Beweis, dass wir eher mit dieser Verifizierung durch das Böse und nicht nur durch das Gute hätten rechnen müssen.« Diese Verifizierung durch das Böse und das im Faschismus angelegte Ausmaß an Gewalt, Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Militarismus überlebte Mauss’ Verstand nicht.
Die sozialistische Aktion, wie sie Mauss vorschwebt, zielt sowohl auf die Gesellschaft als auch auf den Menschen, dessen Denken und alltägliche Praxis. Wenn man auf den Menschen einwirke, so könnten neue Werte, neue Handlungsmodelle und insgesamt ein neuer Humanismus
entstehen, so hofft er. Das Einwirken auf die Menschen geschieht nach Mauss vornehmlich über Erziehung. Den Intellektuellen kommt hierbei eine entscheidende Rolle als Organisatoren und Erzieher zu (EP: 111). Sie dürfen sich jedoch nicht als einzige Hüter der Wahrheit aufspielen, vielmehr gelte es, immer den Bodenkontakt zum Konkreten zu behalten und sich vor dem Hintergrund der konkreten Probleme zu engagieren; das Volk selbst erwarte dies (OE, 3: 241).
In den Augen von Mauss ist derjenige am Besten für die Erziehung der Gesellschaft geeignet, der sie untersucht: der Soziologe. In Divisions et proportion des divisions de la sociologie (1927), einem
methodologischen Beitrag zur Soziologie, zieht Mauss daraus den allgemeinen Schluss: Auch wenn die Soziologie zwar nicht die Menschen glücklich machen könne, so sei sie dennoch »das
wichtigste Mittel, um die Gesellschaft zu erziehen« (OE, 3: 245) [17].
Erlaubt die enge Verbindung zwischen fachwissenschaftlicher Spezialisierung und politischem Einsatz, wie sie Mauss vertritt, ihn als einen im Bourdieu’schen Sinne »korporatistischuniversellen
Intellektuellen« [18]zu bezeichnen? Nach Bourdieu ist der Intellektuelle
»ein zweidimensionales Wesen, das als solches nur existiert und fortbesteht, wenn (und nur wenn) es über eine spezifische Autorität verfügt, die ihm eine autonom (das heißt von
religiösen, politischen, wirtschaftlichen Mächten unabhängige) Welt verleiht, deren spezifische Gesetze es respektiert, und wenn (und nur wenn) es diese spezifische Autorität in politischen Auseinandersetzungen geltend macht.« (Bourdieu 1999: 524f.)
Derjenige, der in seinem Feld (dem wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen Feld) den dort gültigen Kriterien standhält und dort professionelle Autorität erwirbt, der verfügt schließlich über ausreichend Autorität, sich in den politischen und symbolischen Kämpfen für universale Werte zu engagieren. Der Universalismus Bourdieus schließt unausgesprochen an Julien Benda und dessen berühmte Schrift »Der Verrat der Intellektuellen« (1927) an (vgl. Peter 2000: 111). Während Benda jedoch die universalistischen Werte wie Freiheit, Vernunft und Menschenwürde (die sie auch Bourdieu vertritt) interessenfrei von jeglicher politisch motivierten Verteidigung fernhalten will (dies resultierte aus seiner Kritik an reaktionären Idee rechter Intellektueller), so macht sie Bourdieu gerade zum Maßstab gesellschaftlichen und politischen Engagements.
Bourdieus »Realpolitik der Vernunft«, das heißt die Forderung, die für die Funktion der kulturproduzierenden Felder maßgeblichen Logiken der Wahrheit, Vernunft und Authentizität, in die politischen Debatten hineinzutragen, erinnert an Mauss’ propagierte Konzeption des intellektuellen Engagements der Soziologen, der die Gesellschaft vor dem Hintergrund seines fachwissenschaftlichen Wissens zu erziehen habe.
Ein Grund für die Ähnlichkeiten zwischen Mauss und Bourdieu liegt nicht zuletzt darin, dass Bourdieu seinen Intellektuellenbegriff vor dem Hintergrund des politischen Engagements der Dreyfusards, zu denen die meisten der Durkheim-Schule gehörten, konzipiert. Mauss nimmt gleichsam Bourdieus »Realpolitik der Vernunft« vorweg. Am deutlichsten drückt sich dies in der bereits besprochenen »soziologischen Beurteilung des Bolschewismus« aus, in der Mauss versucht, mit Hilfe seines im wissenschaftlichen Feld erworbenen soziologischen Wissens für eine
politische Vernunft und einen »rationalen Akt«, aus dem heraus die Gesellschaft verändert werden könne, einzutreten. Es ist jedoch (unter anderem) kritisch anzumerken, dass sowohl Mauss’ Idee, der Soziologe habe maßgeblich die Rolle eines Erziehers inne, als auch Bourdieus »Korporatismus des Universellen« Züge einer saint-simonistischen Gelehrtenrepublik anhaften (vgl. zu Bourdieu: Peter 2000: 121), in der eine intellektuelle Elite die Werte und politischen Strategien vorgibt.
Stephan Moebius, Prof. Dr. habil., is professor of sociology at the Max Weber Center for Advanced Cultural and Social Studies at the University of Erfurt, Germany (Le Centre Max-Weber en sciences culturelles et sociales de l’université d’Erfurt).
Mail to: stephan.moebius@uni-erfurt.de
Web: www.stephanmoebius.de
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(Hg.), Gift – Marcel Mauss’ Kulturtheorie der Gabe, Wiesbaden: VS, im Erscheinen (dt. Übersetzung von: Marcel Mauss (1979), „L’oeuvre de Mauss par lui-même“, in: Revue française de sociologie, Vol. XX, no 1, janvier-mars, S. 209-220).
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[1] Vgl. als eine Ausnahme den Artikel von Paolo Chiozzi (1983), dem hier im Aufbau gefolgt wird.
[2] Zum Folgenden vgl. auch Tarot (2003: 80ff.).
[3] Zu Mauss’ Begriff des Politischen vgl. den 1925 -1927 verfassten, nicht in den politischen Schriften enthaltenen und von Papilloud in Archives euorpéennes de sociologie (2003, XLIV, 1: 3-26) erstmals herausgegeben Text Politique (un inédit de Marcel Mauss).
[4] Zur Biographie von Mauss vgl. Fournier (1994, 2006). Zu Mauss’ wissenschaftlichen und politischen Werk sowie zu seiner zentralen Rolle für die Durkheim-Schule und zu seiner Wirkungsgeschichte siehe meine Einführung (Moebius 2006b). Die biographischen Angaben, wie sie im Folgenden dargestellt werden, gehen zurück auf Fournier (2006).
[5] Zur Entwicklung und Geschichte der sozialistischen Parteien und der Arbeiterbewegung in Frankreich siehe Madeleine
Rebérioux (1975). Vgl. auch Wolfgang Abendroth (1969: 55 f., 75-77) und Claude Willard (1981).
[6] Jules Guesde gründet im Oktober 1882 die Parti Ouvrier. Guesde ist der politische Kopf der Partei, Marx’ Schwiegersohn, Paul Lafargue, ihr Theoretiker (vgl. Willard 1981: 66). Die Guesdisten sind die ersten, die Marx’ Schriften in Frankreich bekannt machen (vgl. dazu Willard 1981: 68).
[7] Ohne die Affäre wäre – wie Fournier (1997: 10) vermutet – Mauss wahrscheinlich auf Distanz zur Politik gegangen.
[8] 1896 hatte er bereits eine Rezension zu Greefs L’Évolution des croyances et des doctrines politiques in der Zeitschrift Le Devenir social publiziert, ein Text, der zu Beginn der von Marcel Fournier herausgegebenen politischen Schriften steht.
[9] Claude Willard schreibt hierzu: »Jaurès tendiert also dazu […], den Klassencharakter der ›bürgerlichen‹ parlamentarischen Demokratie zu verwischen.« (Willard 1981: 88)
[10] Mauss übt auch Einfluss auf Jaurès aus: Er überzeugt diesen von dem politischen Nutzen statistischer Methoden sowievon der politischen Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Genossenschaftswesen und Sozialismus (vgl. Fournier
1997: 22). Am 30. Juli 1921 fasst Mauss in La Vie socialiste einige seiner Erinnerungen an Jaurès zusammen und hebthierbei dessen unbeugsamen Willen und Klugheit besonders hervor. Jaurès sei ein Held, ein politisches Genie und einweiser Mann gewesen (EP: 437).
[11] Mauss gab 1928 Durkheims Le socialisme heraus.
[12] Vgl. hierzu auch Tarot (2003: 84).
[13] Siehe zu Mauss’ Interpretation des Bolschewismus Busino (1996). Zur russischen Revolution allgemein siehe unter anderem die instruktiven Ausführungen von Eric Hobsbawm (20036: 78ff.)
[14] Wie bereits erwähnt, hält Mauss wie Durkheim und Jaurès nichts von der Vorstellung einer Revolution einer einzigen Klasse. Der Sozialismus muss im Willen aller begründet sein.
[15] Vgl. auch die Einführung von Mauss (OE, 3: 505-509) in Durkheims Le socialisme. Siehe auch Lukes (1973: 245ff.), der auf die Bedeutung von Albert Schäffles Die Quintessenz des Sozialismus (1874) für Durkheim aufmerksam macht.
[16] In den Augen von Mauss bewahrt auch nicht Russland, sondern England die wahre Tradition des Sozialismus. Mauss ist
begeistert von der reformsozialistischen Fabian Society, mit deren Mitgliedern Sidney und Beatrice Webb er sich
befreundet (vgl. EP: 407f.). Zu den Webbs vgl. auch Lepenies (1985: 129ff.).
[17] Die enge Verbindung zwischen Soziologie und Sozialismus sieht Mauss in Saint-Simon verkörpert, der hierin für ihn Vorbildcharakter annimmt (vgl. EP: 725-728, hier: 727).
[18] Korporativismus bedeutet, dass der Intellektuelle auf seinem spezifischen Feld ein gewisses Maß an Autonomie und Autorität erlangt hat. Wenn er diese Autorität dann für universale Werte einsetzt, dann bezeichnet man ihn nach Bourdieu als korporativistisch-universellen Intellektuellen. Bourdieu verknüpft hier Auffassungen über Intellektuelle von Foucault (spezifischer Intellektueller) und Sartre (universalistischer Intellektueller). Vgl. dazu Peter (2000).