Die sozialen Funktionen des Sakralen

Marcel Mauss und das Collège de Sociologie

Héritages de Marcel Mauss

Cet article est une version actualisée d’un texte paru initialement dans un ouvrage collectif dirigé par Stephan Moebius et Ch. Papillioud : Gift - marcel Mauss’ Kulturheorie des Gabe. Nous remercions Stephan Moebius de nous l’avoir transmis.

Ende der dreißiger Jahre [1] bildet sich in Paris eine Gruppe »non-konformistischer« Intellektueller, mit dem Ziel, im Rahmen eines Collège de Sociologie eine neuartige und allumfassende »Sakralsoziologie« ins Leben zu rufen. [2] Dabei orientieren sie sich an dem Denken von Marcel Mauss: »Niemand war so berufen wie Marcel Mauss, ein Buch über das Heilige zu schreiben. Jedermann ist davon überzeugt, daß ein solches Buch für lange Zeit das Buch über das Heilige gewesen wäre. Man zögert, sich dieser Aufgabe an seiner Stelle zu unterziehen. Ich kann meine diesbezüglichen Bedenken zumindest etwas zerstreuen, weil meine Arbeit nicht nur aus den Publikationen von Marcel Mauss, sondern auch aus seinem mündlichen Unterricht und vor allem aus den kurzen, überraschenden, entscheidenden Hinweisen Nutzen gezogen hat, durch die er einfach gesprächsweise die Bemühungen derer, die ihn um Rat angehen, zu befruchten weiß.«

Diese Sätze schreibt Roger Caillois im Jahre 1939 in das Vorwort seines Buches »Der Mensch und das Heilige« (Caillois 1988: 14), das direkt aus seinen Vorträgen am Collège de Sociologie hervorgegangen ist. Caillois gründet im März 1937 zusammen mit Georges Bataille und Michel Leiris das Collège de Sociologie. Aber Caillois ist nicht der einzige Collègien, der von Mauss beeinflusst ist. Auch für Michel Leiris gehört Mauss zu einem seiner wichtigsten Lehrer (vgl. Leiris 1948: XXIV). Ebenso befindet sich unter den Vortragenden am Collège de Sociologie auch der Mauss-Schüler Anatole Lewitzky (1901-1942). [3]

In welchem Verhältnis stehen die Collègiens zu Mauss? Wie werden das Sakrale, das Opfer und die Verausgabung, also die zentralen Themen des Collège de Sociologie im Anschluss an Mauss theoretisiert? Gibt es neben den theoretischen Prägungen auch lebensweltliche Beziehungen?

Ausgehend von diesen Fragen soll der Einfluss von Marcel Mauss auf das Collège de Sociologie untersucht werden. In einem ersten Schritt werden in knapper Form die Entstehung, die Aktivitäten und die Zielsetzungen des Collège dargestellt. In einem zweiten Schritt wird sich dann den theoretischen und lebensweltlichen Beziehungen zwischen den Collègiens und Mauss gewidmet. Am Schluss wird die Frage beantwortet, inwiefern das Denken von Mauss und seine Rezeption durch die Collègiens immer noch gesellschaftstheoretische Aktualität besitzt.

Die Entstehung und die Zielsetzungen des Collège de Sociologie

Bereits 1935 kamen einige der späteren Collège-Mitglieder bei dem Psychoanalytiker Jacques Lacan zu Treffen der linksintellektuellen, anti-kapitalistischen und anti-faschistischen Gruppe »Contre- Attaque« zusammen. Diese von Bataille und André Breton ins Leben gerufene Gruppierung verfolgte das Ziel, die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats zu befördern und verstand sich als Bewegung von Intellektuellen, die in einem deutlichen Gegensatz zur sozialistischen und kommunistischen Linken der Association des Écrivains et Artistes Révolutionaires stand. »Contre-Attaque« wollte auch nicht vor Gewaltanwendungen zurückschrecken. Bisweilen war es sogar die Absicht der Gruppe, faschistische Mittel, die zur Fanatisierung und Begeisterung der Massen beitragen, für links-revolutionäre Zwecke zu nutzen. [4]

Bei Lacan fanden dann auch diejenigen Zusammenkünfte statt, die zur Institutionalisierung und zu den künftigen symbolischen Interaktionsmustern der Mitglieder des Collège beitrugen (vgl. Roudinesco 1999: 213): Dem Collège ging die 1936 von Bataille, Georges Ambrosino, Pierre Klossowski und André Masson gegründete Zeitschrift »Acéphale« voraus. Einige Mitglieder des 1937 gegründeten Collège, wie Roger Caillois, Jules Monnerot, Jean Rollin und Jean Wahl, arbeiteten bei der Zeitschrift regelmäßig mit. Die erste Ausgabe von »Acéphale« behandelte das Thema „Die heilige Verschwörung“ und kündigte damit zugleich auch das Selbstverständnis der Collège-Mitglieder an: Sie wollten eine verschwörerische Gruppe von Eingeweihten sein, die dem Ideal einer „Sakralisierung“ der Gesellschaft nahe kommt und befördert. Es gab auch eine Geheimgesellschaft mit dem Namen Acéphale, die gleichsam die geheime und inoffizielle Seite des Collège bildete. Die Titelseite der ersten Ausgabe der Zeitschrift schmückte ein von André Masson gezeichneter, kopfloser Mann mit Totenkopf im Genitalbereich – gleichsam ein Abgesang an das rationale Subjekt und zugleich eine Bejahung des Unbewussten über das Bewusste.

Das Collège entstand zur Zeit des Niedergangs der »Volksfront«. Léon Blum trat, nach einem Jahr im Amt, im Juni 1937 als Ministerpräsident zurück. Sechs Monate später, Januar 1938, verließen die letzten Sozialisten die Regierung. Der spanische Bürgerkrieg wurde immer mehr zu einer Tragödie und Katastrophe für die Republikaner. März 1938 wurde Österreich von den Deutschen annektiert. Am 29./30. September 1938 folgte das »Münchener Abkommen«, dem auch die demokratischen Länder zustimmten. Das Collège wollte dieser krisenreichen politischen Entwicklung und der als zersetzend erfahrenen Ausbreitung eines anomischen Individualismus unterschiedliche Untersuchungen und praktische Hinweise zum Aufbau gemeinschaftlicher Strukturen entgegenhalten. Die Gesellschaft konnte in den Augen der Collègiens nur noch durch kommunitäre Bewegungen gerettet werden, die das Sakrale affirmieren und dadurch eine neue Kraft der Unterdrückten forcieren. [5]

Zwischen der Soziologie und der Ethnologie gab es in Frankreich keine klare Unterscheidung, wie beispielsweise die Lektüre von Marcel Mauss’ Werken verdeutlicht. Die Grenzen waren fließend. Claude Lèvi-Strauss geht jedoch in einem Aufsatz über die französische Soziologie davon aus, dass beide Disziplinen durch verschiedene „Impulse“ unterschieden werden können: Die Soziologie ruft zur Akzeptanz bestehender sozialer Ordnungen auf, während die »Anthropologie« einen »Hafen« für nicht-integrierte Individuen bietet (vgl. Lévi-Strauss 1971: 505). Wie auch immer diese Differenzierung zu bewerten ist, das Collège bricht mit der Unterscheidung zwischen Soziologie, Ethnologie bzw. Anthropologie, indem es ethnologische Betrachtungen, wie zum Beispiel Mauss’ Beschreibung der totalen Verschwendung in der Austauschzeremonie des Potlatschs, auf die Analyse der eigenen (modernen) Gesellschaft überträgt; Soziologie wird zur ethnographischen Selbstreflexion der modernen Gesellschaft. Die »sakralsoziologischen« Untersuchungen des Collège begreifen sich demnach als Fort- und Umschreibung der traditionellen französischen Soziologie, wie sie die Durkheim-Schule verkörperte.

Die «Sakralsoziologie» des Collège zielt darauf ab, die im Schwinden begriffenen vitalen Elemente moderner Gesellschaften, beispielsweise kollektive Erfahrungen initiiert durch Rituale, Feste oder Spiele, zu analysieren, hervorzuheben und zu erneuern. Die analytische Orientierung auf moderne Gesellschaften soll vorangegangene soziologische Studien, insbesondere der Durkheim-Schule, ausweiten und die Soziologie insgesamt erneuern. Roger Caillois begründet dies folgendermaßen: »Mais ils [die wissenschaftlichen Studien sozialer Strukturen, S.M.] demeurent timides et incomplets, d’une part parce que la science s’est trop limitée à l’analyse des structures des sociétés dites primitives, laissant de côte les sociétés modernes, d’autre part parce que les découvertes réalisées n’ont pas modifié aussi profondément qu’on pouvait s’y attendre les postulats et l’esprit de la recherche.« (Caillois 1979a: 33)

Die Sakralsoziologie versteht sich nicht als eine spezielle Soziologie, wie zum Beispiel die Religionssoziologie, sondern als eine allgemeine soziologische Erforschung »vergemeinschaftender Bewegungen«, die überall in der Gesellschaft zu finden oder neu zu schaffen seien. In der Inauguralsitzung des Collège am 20. November 1937 präzisiert Bataille das Vorhaben folgendermaßen:

«La sociologie sacrée peut être considérée comme l’etude non seulement des institutions religieuses mais de l’ensemble du mouvement communiel de la société: c’est ainsi qu’elle regarde entre autres comme son objet propre le pouvoir et l’armée et qu’elle envisage toutes les activités humaines – sciences, arts et techniques – en tant qu’elles ont une valeur communielle au sens actif du mot, c’est-a-dire en tant qu’elles sont creatices d’unité.» (Bataille 1995b: 36)

Diejenigen menschlichen Aktivitäten und Bereiche, die vergemeinschaftenden Wert haben, das heißt die Gemeinschaft stiften und jenseits einer rein rationalen Erfassung stehen, bilden das Forschungsobjekt der Sakralsoziologie. Das »Sakrale« steht für diejenigen Rand-Bereiche, mit denen die Menschen neben den rationalen Bereichen ihre sozialen Beziehungen vorstellen, systematisieren und erfinden, wie die Symbolisierung des Todes oder der Träume, die Verschwendung und Verausgabung in Festen, Gefühlen, Erotik oder irrationale Handlungen; es steht für die außer-ordentlichen Bereiche des Wahnsinns, der Perversion, A-Normalität, der Gewalt, der vitalen Energien oder das Außer-sich-Sein des Subjekts, allgemein diejenigen Dinge und Bereiche, mit deren Exklusion sich Gesellschaften ihrer Ordnung versichern.

Das Collège will im Gegensatz zur Durkheim-Schule das Sakrale in der modernen Gesellschaft untersuchen und im Alltag (vgl. Leiris 1995) wieder zum Leben erwecken. Es geht davon aus, dass das Sakrale in modernen Gesellschaften einen anderen Charakter aufweist als in so genannten primitiven Gesellschaften. Dennoch könne man die in archaischen Gesellschaften zu findenden vergemeinschaftenden Praktiken in die eigene Kultur hereinholen, so dass anhand einer Hybridisierung zwischen eigener und fremder Kultur neue soziale Lebensweisen entstehen. Die vergemeinschaftenden Bewegungen, die im Sinne gemeinsamer sakraler Erfahrungen aufgefasst werden, sind das vornehmliche Forschungsobjekt und -ziel der Sakralsoziologie des Collège. Den Grund für diese Zielrichtung bildet die individualisierungskritische Annahme des Collège, dass die moderne bürgerliche Gesellschaft durch die Einzelinteressen der Individuen, durch Sinndefizite und durch eine weitgehende Zersplitterung, Rationalisierung sowie durch Ausschluss „heterologischer“ Anderer gekennzeichnet ist. Die moderne Gesellschaft befindet sich nach Auffassung des Collège im „profanen“ Zustand des »post-sacrée« (vgl. Bataille 1995a: 190); ein Zustand, den es zu durchbrechen gilt, um zu einer neuen gemeinschaftlichen Gesellschaft zu gelangen.

«Gesellschaft» definiert sich aus der Sichtweise des Collège idealerweise und im Gegensatz zu einer sich in Atomisierung begriffenen Gesellschaft als ein »zusammengesetztes Sein«: »[Q]u’est-ce que la société? Elle n’est pas un amas. Elle n’est pas non plus un organisme. L’assimilier à l’organisme n’a pas plus de sens que de l’assimilier à la molécule (comme Durkheim l’a fait en quelque sorte). Mais elle est un ›être composé‹.« (Bataille 1995b: 42) Diese Definition wird noch um einen Aspekt erweitert, der sich an Durkheim orientiert: Das Soziale ist mehr als die Summe seiner Teile. Das „Mehr“ bestimmt Bataille als Bewegung, die über den Teilen steht. Die Bewegung, die das soziale Band stiftet, erzeugt das »Mehr« des sozialen Lebens gegenüber der Summe der Individuen; sie erschafft das „Über-Leben“ (sur-vie) in der Beziehung zum Anderen gegenüber dem Sein des einzelnen Subjekts; die Bewegung führt zu einer »sursocialisation«, wie Caillois in Anspielung an den Begriff »surréalisme« schreibt (vgl. Caillois 1979b: 83).

Die Beziehung zwischen Vergesellschaftung und dem Sakralen liegt für das Collège darin, dass das Sakrale als sozialitätsstiftende Bewegung definiert wird (vgl. Bataille 1995b: 53). So gründet sich das soziale Band bzw. die »mouvement communiel« nicht nur auf rational getroffene Übereinkünfte oder gemeinsam geteilte Interessen, sondern auch auf affektive, imaginäre oder symbolische Wahrnehmungsformen, gemeinsame Erlebnisse des Sakralen, auf Mythen, Narrationen, gemeinsamen (Tabu-) Überschreitungen, Opfern und sozialen Praktiken.

In Batailles Text »Le sacré« heißt es, das Sakrale sei weder substantialisiert wie im Christentum noch ein transzendentales Wesen, sondern das Sakrale sei ein „privilegierter Moment kommunieller Einheit, ein Moment der konvulsivischen Kommunikation dessen, was gewöhnlich erstickt wird.“ (Bataille 1970: 562)
Ein anderer Text von Bataille hebt die besondere Rolle der Soziologie zur Erforschung des Sakralen hervor: In einer Rezension des 1939 von Caillois publizierten Buchs L’Homme et le sacré schreibt Bataille bezüglich des Sakralen und seiner Auffassung der Soziologie:

«Was wir heilig nennen, darf nicht den Soziologen vorbehalten bleiben, und dennoch: es ist in unserer Kulturwelt nunmehr fragwürdig geworden, das Wort ohne einen Hinweis auf die Soziologie zu gebrauchen. Nur gibt ihm die Soziologie eine Bedeutung, die sich von dem, was das Wort ohne ihr Dazwischentreten besagen wollte, offensichtlich unterscheidet. Die Theologie darf gewiß nicht gänzlich das Feld räumen, aber sie vernachlässigt einen Großteil des Gebiets der Soziologen, sie weiß nichts oder fast nichts von den Religionen der primitiven oder alten Völker… . Wenn sie jedoch aus der Unwissenheit heraustritt, basiert ihre Sachkenntnis auf der Arbeit der Soziologen. (Bataille 1997: 165)»

Marcel Mauss und die Collègiens

Die lebensweltlichen und teilweise akademischen Berührungen zwischen Marcel Mauss und Georges Bataille finden bereits im Jahre 1928 statt: Die Begegnung, die zunächst jedoch ohne größere Wirkung bleibt, steht im Zusammenhang mit der Gründung der Zeitschrift »Documents«. Der stellvertretende Direktor des ethnographischen Museums am Trocadéro und Lehrer Leiris’, Georges-Henri Rivière, schlug Bataille vor, eine Kunstzeitschrift herauszugeben; ein weiterer Chefredakteur war Carl Einstein (vgl. Mattheus 1984: 131f). [6] Neben einigen Surrealisten, den Lehrern von Leiris und anderen »Größen« aus der Ethnologie wirkte auch Marcel Mauss als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Zeitschrift mit (vgl. Mattheus 1984: 132). [7] »Mauss war der erste Akademiker, der es wagte, 1930 in den Documents, der Zeitschrift von Georges Bataille, eine Hommage für Picasso zu veröffentlichen.« (Waldberg in Mauss 1980: 14)

Wenn das eingangs angeführte Zitat von Roger Caillois vermuten lässt, Marcel Mauss habe sich gar nicht oder nur sehr wenig mit dem sacré beschäftigt, ist dies nicht ganz richtig. So finden sich in zahlreichen Schriften, die Mauss zusammen mit seinem Kollegen Henri Hubert verfasst hat, Hinweise und Erläuterungen zum Sakralen. [8] Caillois verweist beispielsweise selbst in dem 1939 entstandenen Werk »Der Mensch und das Heilige« in der Bibliographie (vgl. Caillois 1988: 24 ff.) auf Mauss’ und Huberts Studie »Mélanges d’histoire des religions« (1909) sowie auf den darin enthaltenen, aber bereits 1899 in der »Année sociologique« abgedruckten Text »Essai sur la nature et la fonction du sacrifice« (Mauss 1968: 195 ff.). Im Gegensatz zu den bereits vorhandenen Studien zum Opfer von Tylor, Robertson Smith, Mannhardt oder Frazer liegt der Mittelpunkt von Mauss’ und Huberts Betrachtung bei der sozialen Funktion des Opfers (vgl. hierzu auch Mürmel 1997: 214). Beim Opfern wird nicht nur etwas hergegeben, sondern es wird etwas sakral gemacht, »sakralisiert«; das Französische macht dies in seinem Wort »sacrifice«, abgeleitet vom Lateinischen »sacrum facere«, sehr deutlich.

Die Collègiens waren von Mauss’ und Huberts Opfertheorie begeistert. Mauss und Hubert sprechen in ihrer Studie von einem interdependenten Wechsel zwischen Sakralisierung und Desakralisierung:

«On voit mieux maintenant en quoi consiste selon nous l’unité du système sacrificiel. Elle ne vient pas, comme l’a cru Smith, de ce que toutes les sortes possibles de sacrifices sont sorties d’une forme primitive et simple. Un tel sacrifice n’existe pas. De tous les procédés sacrificiels, les plus généraux, les moins riches en éléments que nous ayons pu atteindre sont ceux de sacralisation et de désacralisation. Or, en réalité, dans tout sacrifice de désacralisation, si pur qu’il puisse être, nous trouvons toujours une sacralisation de la victime. Inversement, dans tout sacrifice de sacralisation, même le plus caractérise, une désacralisation est nécessairement impliquée; car autrement les restes de la victime ne pourraient être utilisés. Ces deux éléments sont donc si étroitement interdépendants que l’un ne peut exister sans l’autre.» (Mauss 1968: 301)

Das Opfer ist für die Funktion der Gesellschaft deshalb notwendig, weil durch die Zerstörung im Opfer das Sakrale für die Gesellschaft entsteht bzw. die Gesellschaft periodisch erneuert wird, sich gleichermaßen wieder erschafft:

«C’est une fonction sociale parce que le sacrifice se rapporte à des choses sociales. D’une part, ce renoncement personnel des individus ou des groupes à leurs propriétés alimente les forces sociales. Non, sans doute, que la société ait besoin des choses qui sont la matière du sacrifice; tout se passe ici dans le monde des idées, et c’est d’énergies mentales et morales qu’il est question. Mais l’acte d’abnégation qui est impliqué dans tout sacrifice, en rapplant fréquemment aux consciences particulières la présence des forces collectives, entretient précisément leur existence idéale. Ces expiations et ces purifications générales, ces communions, ces sacralisations de groupes, ces créations de génies des villes donnent ou renouvellent périodiquement à la collectivité, représentée par ses dieux, ce caractère bon, fort, grave, terrible, qui est un des traits essentiels de toute personnalité sociale.» (Mauss 1968: 306)

Roger Caillois kommt in einem Vortrag über das Fest auf diese Studie zurück. Für ihn ist das Opfer ein privilegierter Gehalt des Festes, gleichsam die innere Bewegung, die dem Opfer seinen Sinn gibt (vgl. Caillois 1995b: 646). Fest und Opfer stehen ihm zufolge zueinander wie Seele und Körper. Interessant ist im vorliegenden Zusammenhang nicht nur die Bedeutung des Opfers und des für Mauss’ Essay über die Gabe so zentralen Aspekts der sozialen Funktion der Zerstörung, sondern auch die Beziehung zwischen Sakralem und Opfer. Das Sacrifice ist nach Mauss und Hubert ein Kommunikationsmedium zwischen profaner und sakraler Welt: »Ce procédé consiste à établir une communication entre le monde sacré et le monde profane par l’intermédiaire d’une victime, c’est-à-dire d’une chose détruite au cours de la cérémonie.« (Mauss 1968: 302) [9] Nach Mauss besitzen das Opfer wie das Sakrale, das Tabu oder die Gabe eine symbolische Funktion der Übersetzung: Das Opfer trennt, während es zugleich vereint. [10] Soziale Gruppen konstituieren sich nach Mauss mit Hilfe der Symbole über eine doppelte Bewegung der Differenzierung und der engeren Verknüpfung untereinander (Tarot 1998: 74). [11] Eine Bewegung, die an die von Durkheim beschriebene »organische Solidarität« erinnert.

Wie Mauss und Hubert in dem ebenfalls von Caillois herangezogenen Vorwort von »Mélanges d’histoire des religions« hervorheben (vgl. Mauss 1968: 16f), ist das Sakrale durch eine Ambiguität gekennzeichnet, es ist heilig und verflucht, es ist gut und böse, oder in den Worten von Rudolf Otto: fascinans et tremendum. [12] An die dem Sakralen innewohnende Dualität schließt das Collège in seiner Bestimmung des Sakralen an. Das Sakrale wird von den Collègiens ambivalent und dualistisch gedacht, so dass für Bataille sowohl Aristokraten als auch Lumpenproletarier, sowohl faschistische Führer als auch Verrückte zum Bereich des Sakralen gehören, und man – wie der Durkheim-Schüler und Freund von Mauss, Robert Hertz, gezeigt hat – im Bereich des Sakralen selbst noch einmal zwischen einer rechten und einer linken Seite zu differenzieren hat.

Caillois’ Vortrag vom 2. Mai 1939 zur Bedeutung der »verausgabenden« Feste verweist zum einen auf den Essay über die Natur und Funktion des Opfers von Hubert/Mauss, zum anderen aber auch auf die Schrift »Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften« von Mauss und Henri Beuchat sowie auf Mauss’ berühmten »Essay über die Gabe«. So schreibt Caillois anlässlich des Todes von Mauss im Jahre 1950 über dessen »Mélanges d’histoire des religions«:

«Une parfaite rédaction y en valeur met en valeur ce qu’une pensée audacieuse et ferme peut tirer du plus ample savoir. Je pense notament à l’Essai sur la nature et la fonction du sacrifice et à l’étude sur l’Origine des pouvoirs magiques. Pourtant ce ne sont pas, à mon avis, ces compositions rigoureuses qui fournissent l’image la plus fidèle de l’extraordinaire contribution de Marcel Mauss aux sciences sociologiques. Celle-ci montre sa pleine originalité dans le mémoires sur Le don, forme archaïque de l’échange et sur Les variations saisonnières des sociétés Eskimos.» (Caillois 1978: 25)

Lange vor dem Collège haben Mauss und Hubert in ihrem »Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie« (Mauss und Hubert 1999) verdeutlicht, dass das Sakrale ein wesentlich sozialer Begriff, ein Produkt kollektiver Tätigkeit ist (vgl. Mauss und Hubert 1999: 177). [13] Der Einfluss, den das Denken von Mauss auf das Collège hatte, soll im Folgenden anhand einiger Textstellen und Verbindungspunkte exemplarisch verdeutlicht werden. [14]

In dem schon angesprochenen Vortrag über das Fest (Caillois 1995b) – das Fest ist eine Zeit, in der dem Sakralen besondere Bedeutung zukommt – greift Roger Caillois ausdrücklich auf Mauss’ und Beuchats Studie über die Eskimogesellschaften zurück (vgl. hierzu auch Mauss und Beuchat 1999 [1904-5]). Mauss habe in seiner Studie über die Eskimogesellschaften die eindringlichsten Beispiele für die kontrastierende Lebensart erbracht, die im Übrigen bei allen Völkern auftreten, die aufgrund des Klimas oder der besonderen ökonomischen Organisation wegen während eines Jahresteils zur Untätigkeit verdammt sind (Caillois 1995b: 649). Wenn im Winter die Gesellschaft zusammenrückt, wird alles gemeinsam getan, während im Sommer jede Familie ihren Lebensunterhalt allein für sich bestreitet. Der Winter erscheine für die Gesellschaft wie eine Zeit religiöser Exaltation, wie ein Fest: »En face de la vie estivale, presque entèrement laïque, l’hiver apparaît comme un temps d’›exaltation religieuse continue‹, comme une longue fête.« (Caillois 1995b: 650) [15] Entsprechend den Jahreszeiten verändert sich die soziale Morphologie der Gesellschaft: Zersplitterung im Sommer, soziale Konzentration im Winter: »C’est l’époque de la transmission des mythes et des rites, celle où les esprits apparaissent aux novices et les initient. Les Kwakiutl disent eux-mêmes: ›En été, le sacré est au-dessous, le profane est en haut; en hiver, le sacré est au-dessus, le profane au-dessous‹. On ne saurait être plus clair.« (Caillois 1995b: 650)

Mauss erblickt diesen jahreszeitlichen Wechsel nicht nur bei den Eskimos, sondern auch in unseren westlichen Gesellschaften (vgl. Mauss und Beuchat 1999 [1904-5], 273). Man brauche nur zu sehen, schreibt er, was um uns herum geschehe, dann werde man dieselben Schwankungen wieder finden. Ab Juli trete das städtische Leben in eine Periode fortgesetzter Erschlaffung und Zerstreuung ein, »die Ferien, und diese Periode ist mit Ende des Herbstes abgeschlossen.« (Mauss und Beuchat 1999 [1904-5]: 273) Auf dem Land sei dies allerdings anders: Dort gebe es im Winter eine Art Starre, jede Familie lebt in sich zurückgezogen. Im Sommer dagegen belebt sich auf dem Land alles, »man lebt draußen und in ständigem Kontakt miteinander. Es ist die Zeit der Feste, der großen Arbeiten und der großen Ausschweifungen.« (Mauss und Beuchat 1999 [1904-5]: 273) Mauss und Beuchat deuten es als ein allgemeines Gesetz, dass das soziale Leben zu den verschiedenen Jahreszeiten nicht auf dem selben Niveau bleibt und es verschiedene, zyklisch alternierende soziale Morphologien im Jahr gibt (vgl. Mauss und Beuchat 1999 [1904-5]: 274). [16]

Caillois ist der Ansicht, die Feste erfüllen überall eine analoge Funktion (vgl. Caillois 1995b: 690): Sie befreien von den Zwängen des menschlichen Daseins. Das Fest ist ihm zufolge der Moment, bei dem man den Mythos und den Traum lebt, eine Zeit der Verausgabung und der Verschwendung. Heutzutage sei dies allerdings kaum noch zu beobachten. Man habe den Eindruck, die Gesellschaften steuerten auf eine Gleichförmigkeit und Lockerung der Spannungen zu (vgl. Caillois 1995b: 690): »La complexité de l’organisme social à mesure qu’elle s’accuse souffre moins l’inerruption du cours ordinaire de la vie.« (Caillois 1995b: 690) In der zeitgenössischen Gesellschaft ersetzen die Ferien das Fest. Während aber die Feste eine Phase des Paroxysmus seien, seien die Ferien lediglich Leerräume, Verlangsamungen der sozialen Aktivität. Sie schenken dem Individuum nach Caillois keine Erfüllung und dienen nur der Entspannung. Ferien isolieren einen von der Gruppe, Feste vereinigen. Anders als das Fest repräsentieren die Ferien nicht den höchsten, sondern den niedrigsten Stand des Kollektivdaseins (vgl. Caillois 1995b: 690).

Die von Mauss und Beuchat zuerst in der »Année sociologique« 1904/1905 erschienene Arbeit zu den Eskimos spielt auch im Hintergrund des Collège-Texts »Le vent d’hiver« von Caillois eine Rolle. Bereits der Titel des Vortrags, der 1938 zusammen mit Texten von Bataille und Leiris unter dem Titel »Pour un Collège de Sociologie« in der »Nouvelle Revue Française« veröffentlicht wurde, verdeutlicht die Nähe zur Studie von Mauss und Beuchat. [17] Ebenso erinnert der Titel an eine Studie von Marcel Granet über den Chinesischen Winter.

Für Marcel Granet entstanden in den Festen die frühesten Glaubensformen. Seiner Ansicht nach glaubten die Menschen in China, dass ihre religiösen Handlungen reale Auswirkungen auf die Abläufe der Natur hätten. Granet konnte trotz zahlreicher Bemühungen nicht für das Collège gewonnen werden. [18] Für Caillois’ Theorie und Propagierung des Festes sind Granets Ausführungen besonders interessant, da Granet in dem Buch »Fêtes et chansons anciennes de la Chine« (1919) selbst in einem geradezu schwärmerischen Stil von diesen berichtet und ihren sakralen Charakter hervorhebt (vgl. Vogt 1981: 288): »Hielten sie ihre periodischen Versammlungen ab, so tauchten plötzlich die Bauern des alten China aus der Abgeschlossenheit eines monotonen privaten Lebens auf, um sich an einem feierlichen, durch die Tradition geheiligten Fest zu beteiligen, das ihre edelsten Ideale verkörperte. Sie ließen ihr kleines Stück Land, ihr ruhiges Dorf und ihre Einsamkeit hinter sich, um jenes Verständnis eines Bundes zu feiern, der die Sicherheit jeder kleinen Gruppe bedeutete. […] Die Autorität der Tradition, die Feierlichkeiten des Festes, die Bedeutung der Riten und die Zahl derer, die sich an ihnen beteiligten – alles vereinte sich, um der heiligen Orgie eine ungewöhnliche emotionale Kraft zu verleihen. Wie intensiv müssen die Emotionen gewesen sein, die die Menge beherrschten! [Die emotionale Wucht dieses] einzigartigen Augenblicks […] ist durch eine fast wunderbare Verstärkung dazu geeignet, in denjenigen, aus denen sie hervorgeht, einen unwiderstehlichen Glauben an die Wirksamkeit der Praktiken, die man gemeinsam betreibt, hervorzurufen.« (Granet zitiert nach Vogt 1981: 288f) [19]

Mittlerweile sei die Autonomie der moralischen Person die Basis der Gesellschaft geworden, es eröffne sich langsam eine Krise des Individualismus, so Caillois’ Prognose in seinem Vortrag »Le vent d’hiver« (Caillois 1995c: 332). Aber selbst die größten Individualisten seien schwache Männer gewesen: »Sade imganinant ses débauches entre les murs d’un cachot. Nietzsche à Sils-Maria, solitaire et maladif théoreticien de la violence, Stirner fonctionnaire à la vie réglée, faisant l’apologie du crime.« (Caillois 1995c: 335) Nun sei der Zeitpunkt gekommen, jeden, der sich nicht aus Furcht oder Eigeninteresse scheut, darin zu unterrichten, einen Kampf gegen die Gesellschaft zu unternehmen. Dies bedeute einerseits, Gemeinschaften zu gründen und andererseits setze dies eine gewisse Erziehung voraus, die vom Geist des Aufruhrs zu einer imperialistischen Haltung führe und impulsive Reaktionen zur Disziplin, Geduld und Kalkulation bringe (vgl. Caillois 1995c: 336). Man müsse sich darauf konzentrieren, nicht weiter zu »profanisieren«, sondern zu »sakralisieren« (vgl. Caillois 1995c: 336f). Das Begehren, die Gesellschaft als Gesellschaft zu bekämpfen, konstituiere die Gruppe; dieser Prozess führe zu einer »sursocialisation« (vgl. Caillois 1995c: 337).

Die kollektive Anstrengung kann sich Caillois zufolge nicht auf die Rasse, die Sprache, historisches Territorium oder Tradition berufen, auf die sich die Existenz der Nation oder der Patriotismus stützen. Ansonsten würde man gerade das billigen und bestärken, was man doch verändern und schwächen wolle. Vielmehr komme eine dringend notwendige Gemeinschaft nur durch gewählte Affinitäten zustande. Drei Typen einer solchen Gemeinschaft stellt Caillois vor: »À l’extrême, ces considérations inclinent à reconnaître comme particulièrement armée pour la lutte, une association militant et fermée tenant de l’ordre monastique actif pour l’état d’esprit, de la formation paramilitaire pour la discipline, de la société secrète, au besoin, pour les modes d’existence et d’action.« (Caillois 1995c: 344)

Die Kraft und Macht dieser Gemeinschaft(en) drückt Caillois in seinem Winterwind-Vortrag in Wettermetaphern aus: »Il s’élève présentement dans le monde un grand vent de subversion, un vent froid, rigoureux, arctique, de ces vents meurtriers et si salubres, qui tuent les délicats, les malades et les oiseaux, quine les laissent pas passer l’hiver. […] Une mauvaise saison, peut-être un ère quaternaire – l’avance des glaciers –, s’ouvre pour cette société démantelée, senile, à demi croulante.« (Caillois 1995c: 351f)

Caillois’ Beschwörung der Winterzeit als subversive Wendezeit in der Gesellschaft erinnert – über die Studie zum jahreszeitlichen Wechsel von Mauss und Beuchat hinaus – an den stark betonten Aspekt der Gewalt in Mauss’ »Essay über die Gabe«: »Der Gewaltpathos im Collège de Sociologie wird meistens auf nietzscheanisch-vitalistisches und sorelsche Anleihen zurückgeführt, kann aber auch mit dem ›Essai sur le don‹ in Zusammenhang gebracht werden, wo der Potlatsch auch den Aspekt der Gewalt (violence) umfaßt.« (Keller 2001: 154) Der Essay über die Gabe von Marcel Mauss spielt nicht nur eine bedeutende Rolle für die Theorie der Verausgabung, die Georges Bataille zu Beginn der dreißiger Jahre in der »La critique sociale« (No 7, Januar 1933) zu elaborieren beginnt (vgl. Bataille 1970: 302 ff., 660 ff.) [20], sondern Mauss’ Studie zur Gabe ist fast für die gesamte nonkonformistische Generation prägend. Ihr Einfluss auf das Denken in der Zwischenkriegszeit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. So schreibt denn auch Thomas Keller in seiner ausführlichen Studie über die deutsch-französischen Dritte-Weg-Diskurse in der Zwischenkriegszeit:

«Die Beobachtungen, die in weit entfernten Ländern gemacht werden, dienen nicht dazu den ›Wilden‹ zu idealisieren, sondern um nicht-utilitaristische soziale Praxis auch in industrialisierten Ländern mit ethnologischen Analysen identifizieren zu können. Das Gabe-Denken ist in diesem Sinne weder vormodern noch anti-modernistisch. Es konfiguriert eine alternative Moderne. […] Das Gabe-Denken wird in der Phase virulent, die auf die relative politische Stabilität zwischen 1924 und 1929 (in Hinblick auf Frankreich und Deutschland die Locarno-Ära) folgt. Nonkonformistische Orientierungen fordern die etablierten Parteien und Bewegungen und auch Humanwissenschaften heraus. In einer komplexen Bewegung verbindet sich der Risikodiskurs aus Frankreich mit Konzepten aus Deutschland, um Dritte- Weg-Konzeptionen zu formen. Das Denken der Gabe und der Verausgabung wird fast von der Gesamtheit der nonkonformistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit aufgegriffen und zu Risikodiskursen umgeformt. Die Spuren dieses Denkens von Mauss findet man bei Déat, Dandieu, Bataille, Marc, Leiris, Caillois, Queneau, Maulnier, Blanchot, Lévinas. Diese Nonkonformisten (so wird die um 1905 geborene Generation genannt, die den Krieg noch bewußtseinsmäßig erlebt hat, ohne an ihm teilzunehmen, und die die restaurierte bürgerliche Nachkriegsgesellschaft ablehnt) weisen eine Geistigkeit zurück, in der das Ich kein Risiko eingeht.» (Keller 2001: 94)

Im Denken der Gabe finden sich sowohl die (sakralen) Verausgabungen der Feste als auch die sakralisierenden Opfer und Zerstörungen wieder. Bataille schreibt über die den Opfer-Aufsatz von Hubert und Mauss, es handele sich dabei um eine meisterhafte Studie; der Essay über die Gabe sei von »grundsätzlicher Bedeutung für jedes Verständnis der Ökonomie, das ermessen will, inwieweit mit ihr Zerstörungsformen des Überschusses der produktiven Tätigkeit verbunden sind.« (Bataille 1997: 101)

Batailles Theorie der Verausgabung ist angelehnt an Mauss’ Studie über die Gabe. Warum zitiert Mauss aber an keiner Stelle Batailles Text über die Verausgabung aus den dreißiger Jahren, obgleich er ihn kennen musste? Er kannte die Projekte seiner Studierenden, die Freunde Batailles; er musste von Batailles Theorie wissen, warum ist er nicht auf dessen Thesen, die sich an seinen orientierten, eingegangen? Jean-Christophe Marcel gibt auf die Fragen die Antwort: »The fact is that nothing in Bataille’s project could find favour in the eyes of Mauss.« (Marcel 2003: 142) Batailles Denken musste von Mauss als ein Angriff auf seinen Rationalismus, seine Auffassung von Wissenschaft und auf seinen Glauben an die Vernunft und den Fortschritt gedeutet werden. Ein Graben klaffte zwischen den Werten seiner Generation und denen der Non-konformisten. »Mauss’s sociology has no room in its explanation of the social bond for any kind of the irrational.« (Marcel 2003: 147) Batailles Bewunderung für das Gabedenken von Mauss stieß bei diesem also auf kein Gegeninteresse. Vielmehr: Mauss wollte Caillois und Leiris vor den Fallen des Irrationalismus bewahren.

In seiner Einleitung zum Werk von Marcel Mauss bemerkt Claude Lévi-Strauss, dass kaum eine Lehre so einen tiefen Einfluss auf das soziologische und ethnologische Denken in Frankreich ausgeübt habe wie die von Mauss (Lévi-Strauss 1999: 7). [21] Und er fügt mit Blick auf den Essay über die Gabe hinzu, dass Mauss’ Abhandlung vorführt, wie man Sachverhalte auf die Natur eines symbolischen Systems bezieht: »Wie die Sprache ist das Soziale eine (und zwar dieselbe) autonome Realität; die Symbole sind realer als das, was sie symbolisieren, der Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt es. Dieses Problem werden wir im Zusammenhang mit dem mana wiederfinden. Das Revolutionäre der Abhandlung Die Gabe ist, daß sie uns diese Richtung einschlagen läßt.« (Lévi-Strauss 1999: 26)

Dem Essay über die Gabe waren bereits zahlreiche Forschungen und Artikel zum Thema vorangegangen (vgl. dazu auch Lévi-Strauss 1999: 19). Beispielsweise hatte bereits Mauss’ Schüler Georges Davy in seiner umstrittenen thèse den potlatsch beschrieben (vgl. dazu Besnard 1985: 249). Davys Studie beruhte auf der »Grundlage der Forschungen von Boas und Swanton, deren Bedeutung Mauss seinerseits schon vor 1914 in seinem Unterricht hervorhob […], und die ganze Abhandlung Die Gabe geht auf eine höchst direkte Weise aus den Argonauts of the Western Pacific hervor, die Malinowski ebenfalls zwei Jahre vorher veröffentlicht hatte und die ihn ganz unabhängig zu Schlußfolgerungen führen sollten, die denen von Mauss nahestehen.« (Lévi-Strauss 1999: 26) Mauss kritiserte jedoch Malinowski und hielt ihn insgesamt für zu empiristisch.

Warum übt »Die Gabe« von Mauss dennoch so eine magische Anziehungskraft aus? Was steckt in dieser »Kladde« (Lévi-Strauss 1999: 26) und in dieser eigentümlichen Sammlung amerikanischer, keltischer, griechischer, ozeanischer oder indischer Belege? Lévi-Strauss beantwortet diese Fragen damit, dass kaum einer den Essay habe lesen können, »ohne die ganze Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfaßt den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewißheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein.« (Lévi-Strauss 1999: 26) Denn zum ersten Male sei das Soziale zu einem System geworden, bei dem man zwischen den Elementen Äquivalenzen und Verbindungen entdecken konnte. Was genau behandelt Mauss in seiner so große Faszination erregenden Studie?

Ausgehend von ethnographischen Studien über fremde Kulturen von Robert Hertz, Bronislaw Malinowksi und Franz Boas sowie Analysen innerhalb der eigenen europäischen Kultur zum römischen und germanischen Recht entwirft Mauss ein eigenständiges Gabe-Theorem, das die drei Pflichten des Gebens, Nehmens und Erwiderns in den Mittelpunkt stellt. Er analysiert das Phänomen des intertribalen Gabentauschs, bei dem Geschenke, Rituale, Festessen, Tänze etc. gegeben, geopfert und wertvolle Gegenstände zerstört werden. Das Besondere und für Mauss Interessante ist, dass die Gabe zwar in einer eher freiwilligen Form geschieht, dennoch aber immer erwidert werden muss, also verpflichtenden Charakter hat (Mauss 1999a: 17).
Entgegen einer modernitätsfixierten Rückübertragung moderner Ausdifferenzierungsprozesse auf archaische Gesellschaften ist der Gabentausch Mauss zufolge ein »soziales Totalphänomen« (fait social total), das sich dadurch auszeichnet, dass in ihm sowohl religiöse, rechtliche, moralische, politische, ökonomische als auch ästhetische Dimensionen zum Ausdruck kommen. Bemerkenswerterweise handelt es sich aber bei einem von Mauss‘ prominentesten Beispielen fremdkultureller Gabepraktiken nicht um harmonisch-äquivalente oder reziproke Formen des Tausches, sondern um das, was man mit dem Begriff des potlatsch bezeichnet: ein insbesondere von Franz Boas erforschtes Geschenkverteilungsfest an der Nordwestküste Nordamerikas, bei dem es um die exzessive Verausgabung und zerstörerische Verschwendung von Gütern geht. Der potlatsch ist eine Institution, die man nach Mauss als totale Leistung von agonistischem Typ bezeichnen könnte. »Agonistisch« ist die Gabe, weil es sich beim Gabentausch nicht um einen Waren- oder Gütertransfer als vielmehr um Prozesse handelt, bei denen sich die Akteure gegenseitig zu übertreffen und zu verpflichten versuchen. Sie ist ein »soziales Totalphänomen«, weil das Gabe-Prinzip sowohl die gesamte Gesellschaft durchdringt als auch mehrere einander fremde Gesellschaften verbinden und sowohl in zeitlich früheren als auch in archaischen und modernen Gesellschaften entdeckt werden kann. Wie man insbesondere am Phänomen des potlatsch sehen kann, ist die Gabe weniger dem materiellen oder ökonomischen Tausch geschuldet (dafür gibt es bei den von Mauss untersuchten fremdkulturellen Gesellschaften spezielle Tauschbeziehungen [22]), sondern die materiellen Dinge sind Medien für die symbolische Herstellung und Stabilisierung sozialer Beziehungen. Insofern muss man auch, worauf insbesondere Marcel Hénaff (2002: 145 ff.) aufmerksam gemacht hat, zwischen drei Formen der Gabe differenzieren: zwischen Tausch, einseitig-karitativen Handlungen und Gabepraktiken zur Herstellung und Aufnahme sozialer Beziehungen. Nur im letzteren Fall, in der Stiftung und Absicherung von sozialen Beziehungen, handelt es sich um eine Gabe und Gabenmoral im Mauss’schen Sinne (vgl. auch Dzimira 2007: 66).

Die Gabe besteht nach Mauss aus den drei Pflichten des Gebens, Nehmens und Erwiderns. Es wird jedoch bei der Lektüre des Gabe-Essays deutlich, dass sich die darin enthaltene Theorie der Verpflichtung an der methodologischen Bevorzugung der Erwiderung orientiert. Bevor man geben kann, muss man bereits irgendetwas empfangen haben, das man dem Anderen als Gabe darbieten kann.

«Diese andere oder frühere Gabe kann sich Mauss bei aller vorrangigen Wesenhaftigkeit des Gebens nicht anders denn als eine abermals unter dem Diktat der Erwiderung stehende Gabe vorstellen. […] Für Mauss ist und bleibt eine Gabe nur so lange eine Gabe, wie es ihr gelingt, den Zwang, sie zu nehmen und zu erwidern, im Geben selbst mitzugeben. In diesem Sinne aber muß jede Gabe eine bereits erwiderte Gabe darstellen.» (Därmann 2005: 150)

Darüber hinaus muss die Gabe nicht unbedingt unmittelbar dem Geber zurückgegeben werden, sie kann vielmehr zirkulieren (zwischen unterschiedlichen Kollektiven, Gesellschaften, Generationen etc.): Die Gabe der Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern beispielsweise wird vielleicht nicht unbedingt ihnen gegenüber erwidert, sondern »der Geist« der von ihnen erlangten Gabe wird weitergegeben an die eigenen Kinder oder an andere hilfsbedürftige Menschen. [23]

Die Gabe ist nach Mauss Träger einer Art Kraft. Der weggegebenen Sache haftet noch ein Stück des Gebers an, sie hat noch »etwas« von ihm, sie ist ein symbolischer Verweis auf den Anderen als Geber (vgl. Moebius 2006a: 86 f.), das heißt, beim Geben und Nehmen findet eine Art Transsubstantiation der Beteiligten statt; der Empfänger nimmt den Anderen in sich auf, der wiederum von ihm Besitz ergreift. Folglich heißt Geben immer auch, dass man sich selbst gibt, dass man etwas von sich selbst, einen Teil seiner Person, von dieser Kraft, dem »Geist der Dinge« weggibt, dass man sich selbst transzendiert. Die für das Verständnis des verpflichtenden Charakters der Gabe konstitutive Fremderfahrung der Besessenheit [24] und des Ergriffenseins rührt von der im Gabeprozess angelegten Hybridisierung von Person und Sache, der geistigen und materiellen Substanzen. [25]

Die von Mauss untersuchten fremden Gesellschaften haben ihm zufolge noch die im zeitgenössischen Europa weitgehend verloren gegangene Begabung, Unterschiede zwischen Gabe und Ökonomie, Freiwilligkeit und Verpflichtung, Interesse und Desinteresse sowie zwischen Person und Sache mit Hilfe der Gabepraktiken zu bestimmten Zeiten und Anlässen einzuebnen, zu entdifferenzieren und miteinander zu vermischen. Mauss spricht von der Besessenheit auch im Sinne von einer confusion und mélange: »Im Grund sind es Mischungen. Man mischt die Seelen unter die Dinge, man mischt die Dinge unter die Seelen. Man mischt die Leben und siehe da: jede der miteinander vermischten Personen und Sachen tritt aus ihrer Sphäre heraus und mischt sich von neuem: dies ist genau der Vertrag und der Austausch.« (Mauss 1950: 173) [26] Der Geber und die gegebene Sache sind nicht völlig getrennt. In der Annahme der Gabe nimmt man gleichzeitig die fremde Person in sich auf, ist ergriffen und besessen vom »Anderen in mir«. [27]

Die mélanges von Personen und Sachen stellen chiastische Mischungen dar. Insgesamt verweist Mauss’ Gabe-Theorem auf vier Modalitäten der Vermischung (vgl. Därmann 2005: 102 ff.): die Personifizierung der Sache, die Versachlichung der Person, die Identifizierung von fremder und eigener Person sowie die Identifizierung von fremder und eigener Sache. Es ist diese Mischung, die die Pflicht zu geben, zu nehmen und zu erwidern konstituiert. Es ist die Person und Sache vermischende Gabe, die verpflichtet und soziale Bindung schafft. Man hat es hier also weniger mit einer einfachen Reziprozität zu tun, wie vielfach angenommen wird. [28] Vielmehr verweist Mauss’ Gabe-Theorem auf einen ekstatischen, selbsttranszendierenden Charakter der Beziehung zum Anderen und zugleich auf eine Fremderfahrung des Besessen- und Ergriffen-Seins durch den Anderen und dessen Sache (vgl. Mauss 1999a: 130), da man die fremde Person und die fremde Sache durch die Gabe gleichsam »in sich« trägt. In Über den Begriff der Person und des »Ich« (1938) schreibt Mauss, der »siegreiche potlatch« entspreche der »geglückten Besessenheit« (Mauss 1989b: 233). [29]

Hinzu kommt, dass die gegebene Sache ambivalent (gift) ist. Wenn man sie zu lange bei sich behält, wird man völlig vom Anderen besessen oder es folgen moralische Sanktionen. Um sich aus der alterierenden Besessenheit zu befreien, kommt es zur Erwiderung. Allgemein legt diese, die Hybridität in den Vordergrund stellende Analyse und Interpretation von Gabepraktiken nahe, dass »die Verbindung von Person und Sache die im Geben geschehende Verbindlichkeit zwischen der eigenen und der fremden Person stiftet.« (Därmann 2005: 159)

Dies bedeutet auch, dass Mauss nicht, wie ihm Lévi-Strauss (1999) oder auch Marshall Sahlins (1972) vorwerfen, in der Maori-Theorie des hau seinen letzten oder einzigen Erklärungsgrund der Erwiderung findet, sondern die Theorie des hau nur ein Beispiel unter anderen ist, und zwar eine spezifische kulturelle Vorstellung und Ausdrucksweise für die Besessenheit. Mauss verweist deshalb im weiteren Verlauf seiner Studie beispielsweise auf den rechtlichen Formalismus im altrömischen Recht, die Theorie des nexum, um aufzuzeigen, dass es nicht nur eine magische oder religiöse, sondern in der Geschichte Europas auch eine rechtliche Vermischung von Person und Sache gegeben hat (vgl. Mauss 1999a: 123 ff.). Das hau liefert also mitnichten die einzige Erklärung von Mauss. [30]

Die in den Gabentausch involvierten Akteure geben nicht (nur) im Namen ihrer eigenen Person, sondern immer (auch) als Repräsentant ihrer Gesellschaft, der Verwandtschaft, der Familie, der Körperschaft und der Toten (vgl. Mauss 1999a: 91 f.). Mauss spricht deshalb von »Person« im Sinne einer »moralischen Person« (personne morale), die eine Körperschaft personalisiert und durch die eine Körperschaft verkörpert wird (Mauss 1999a: 21 f.). Zur »Person« wird in den von Mauss beschriebenen Gesellschaften nur der, der zuvor durch bestimmte Rekrutierungsmaßnahmen und Initiationen zum (in archaischen Gesellschaften zumeist durch Masken versinnbildlichten) Träger von Rechten, Pflichten, Privilegien, Titeln und Ämtern seiner eigenen Körperschaft (das heißt seines Clans, Familie, Phratrie, Bruderschaft) geworden ist. [31] Was bedeutet das für den Gabentausch? Der Status als »Person« ist höchst labil, denn man kann beim potlatch sein Gesicht, seine Maske, seine Ämter, Ahnen, Güter, kurzum: den gesamten Status, die ganze »Person« an die fremde Körperschaft verlieren. »Es ist wirklich die persona, die auf dem Spiel steht«, so Mauss (1999a: 93). Und das meint auch: das gesamte Kollektiv.

Bezogen auf einen Begriff von Gesellschaft bedeutet dies, dass Sozialität nicht schon immer gegeben ist oder – wie etwa die strukturalistische Mauss-Rezeption von Lévi-Strauss annimmt – einem unverbrüchlichen Prinzip oder Gesetz der Reziprozität gehorcht; vielmehr ist Sozialität dynamisch und fragil, Bündnisse können in Krieg umbrechen. Sozialität muss in den Augen von Mauss folglich immer wieder, in regelmäßigen Abständen und von Situation zu Situation durch Praktiken und Erfahrungen der Gabe hergestellt und damit die Bindungskräfte durch Wiederholung der Gaberituale erneuert werden.

Am Ende des Gabe-Essays kehrt Mauss von seiner Untersuchung der außereuropäischen Gesellschaften und der alten indo-europäischen Rechts- und Wirtschaftsordnungen zurück, um sich die Frage zu stellen, welche moralischen und sozialökonomischen Schlussfolgerungen für moderne westliche Gesellschaften aus seiner Betrachtung zu ziehen sind. Ihm zufolge haben westliche Gesellschaften, insbesondere seit der im spätrömischen Recht angelegten Trennung zwischen Person und Sache, die Gabe auf einen bloß ökonomischen Austausch reduziert. [32] Gegenseitige Anerkennung, Großzügigkeit sowie moralische Verpflichtung und nicht rechnerisches Kalkül, dies sind nach Mauss die lang vergessenen, nun erst langsam wieder auftauchenden aktuellen Motive, die im Thema der Gabe angelegt sind. [33] Seine Studie verortet sich zwischen einer Kritik am utilitaristischen Individualismus einerseits und einer Kritik am Bolschewismus, den er zeitgleich mit dem Gabe-Essay untersucht, andererseits (vgl. Moebius 2006a: 119 ff.). Er verfolgt bei dieser Kritik der Gegenwart, die seine Untersuchung unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg motiviert, keine Rückkehr zur archaischen Welt, sondern das Projekt einer »inversiven Ethnographie«, das heißt die Einnahme einer fremdkulturellen Perspektive auf die eigene Kultur, von der aus neuartige Kritikfelder und bislang nicht in den Blick geratene Aspekte zu Tage gefördert werden. Mauss‘ Anliegen besteht in einer Aufnahme bestimmter elementarer Prinzipien der Gabe, die jenseits ausschließlich utilitaristischer Handlungsmaximen anzusiedeln sind und die nach seinem Wunsch Eingang in die modernen Gesellschaften finden sollen. [34]

Die Bataille’sche Interpretation des potlatsch wird von Mauss nicht geteilt. Batailles Begriff der Verausgabung folgt einem Gabe-Begriff, der auf absolute Freigebigkeit, bis zum Zerstörungspotlatch gehende Maßlosigkeit und reine Selbstlosigkeit des Gebens abzielt. Diese Sichtweise auf die Gabe deckt sich jedoch nicht mit Mauss’ methodologischer Bevorzugung der Erwiderungspflicht und damit auch kaum mit seiner Logik der Gabe. Denn der absolute Verschwendungspotlatsch, wie er Bataille vorschwebt, kappt die sozialen, verbindlichen und verpflichtenden Bande, weil er jede Erwiderung vereitelt, da der Andere dieser absoluten Zerstörung nichts mehr entgegenzusetzen vermag. Sehen die Collègiens also auf der einen Seite in dem Mauss’schen Gabe-Theorem ganz richtig die darin angelegte Bindungskraft von Erfahrungen der Selbsttranszendenz und der Besessenheit, so sehen sie auf der anderen Seite nicht, dass eine einseitige Verausgabung und Maßlosigkeit genau diese sozialkohäsiven Potenziale und damit die Erwiderungsmöglichkeit bzw. -pflicht der Gabe unterlaufen. Mauss kritisiert diese (übrigens durch den Kolonialismus bewirkte) maßlose Ausprägung des potlatch, wie sie beispielsweise Bataille vorschwebt, weil sie zu einer »rücksichtslosen Konsumtion«, »reinen Vergeudungsausgaben«, »Verschwendungssucht« (Mauss 1999a: 170) und zu einer »monströsen Ausgeburt des Geschenksystems« geführt habe (Mauss 1999a: 101). [35] Für Mauss ist hingegen eine Gabe nur eine Gabe, wenn sie eine Pflicht des Erwiderns erzeugt. Ein weiterer Gegensatz zu den Collègiens und insbesondere zu Bataille besteht darin, dass dieser die Verausgabung weitgehend als interessenlose Beschäftigung betrachtet, während für Mauss der verschwenderische, risikofreudige und luxuriöse Gabentausch mit dem Interesse nach Prestige und symbolischer Macht verknüpft ist. Es geht in diesem Kampf um Anerkennung, man hat ein Interesse am Gabentausch, allerdings nicht an einer Anhäufung oder endlosen Ansammlung von ökonomischem Kapital oder Reichtümern. [36]

«Man hortet die Schätze, aber nur, um sie später auszugeben, um sich Leute zu ›verpflichten‹, ›Lehnsmänner‹ zu gewinnen. […] Man hat ein Interesse, aber es ist dem, das als unser Leitprinzip gilt, lediglich analog. Zwischen der relativ amorphen und selbstlosen Wirtschaft im Innern der Untergruppen, welche das Leben der australischen und nordamerikanischen Clans regelt, und der individualisierten reinen Interessengemeinschaft, die unsere Gesellschaften in gewissem Maße immer kannten, seit die Griechen und Semiten sie begründet haben, zwischen diesen beiden Wirtschaftsformen findet sich eine lange Reihe von Institutionen und wirtschaftlichen Vorgängen, die nicht von jenem Rationalismus geleitet werden, den die Theorie so bereitwillig unterstellt. Das Wort ›Interesse‹ selbst ist jüngeren Datums und geht zurück auf das lateinische ›interest‹, das in den Rechnungsbüchern über den einzunehmenden Einkünften geschrieben stand. In den epikureischsten der alten Moralsysteme strebte man nach dem Guten und dem Vergnügen, und nicht nach materieller Nützlichkeit. Es bedurfte des Sieges des Rationalismus und Merkantilismus, damit die Begriffe Profit und Individuum Geltung erlangen und zu Prinzipien erhoben werden konnten. […] Erst unsere westlichen Gesellschaften haben, vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem ›ökonomischen Tier‹ gemacht. […] Der homo oeconomicus steht nicht hinter uns, sondern vor uns […].» (Mauss 1999a: 172f)

Gegenseitige, in der Verausgabung angelegte Großzügigkeit und Verpflichtung, wie sie zum Beispiel in der französischen Gesetzgebung der Sozialversicherung angelegt sei (vgl. Mauss 1999a, 160) und nicht rechnerisches Kalkül sind nach Mauss die lang vergessenen, nun wieder auftauchenden Motive, die im Thema der Gabe angelegt seien. Man solle zu den archaischen Prinzipien zurückkehren (damit ist natürlich nicht gemeint, zu den archaischen Gesellschaften selbst). Dann werde man Handlungsmotive erkennen, die vielen Gesellschaften noch bekannt seien, nämlich: »die Freude am öffentlichen Geben, das gefallen an ästhetischem Luxus, das Vergnügen der Gastfreundschaft und des privaten und öffentlichen Festes.« (Mauss 1999a: 163)

In den freien Berufen funktioniere in einem gewissen Grad schon eine Moral und Ökonomie dieser Art, wie Mauss weiter ausführt. Ehre, Selbstlosigkeit und korporative Solidarität seien weder leere Wörter noch würden sie der Notwendigkeit zur Arbeit zuwider laufen. »Humanisieren wir auch die anderen professionellen Gruppen, damit wäre ein Fortschritt erzielt, den schon Durkheim häufig empfohlen hat.« (Mauss 1999a: 163) Wie die Aussagen deutlich machen, war Mauss nicht nur an einer deskriptiven Beschreibung und Analyse des potlatsch gelegen, sondern es galt vielmehr auch die moderne Gesellschaft vor ökonomischen Profitinteressen zu bewahren.

Damit man Mauss nicht missversteht: Es geht ihm nicht um ein Zurück in die archaische Welt oder Gesellschaft. Vielmehr will er eine Art Aufnahme bestimmter, elementarer Prinzipien der Gabe, die jenseits rein utilitaristischer Prinzipien anzusiedeln sind und die nach Mauss’ Wunsch Eingang in die modernen, laizistischen Gesellschaften finden sollen.

Aber nicht nur das Gabe-Denken beeinflusste die Mitglieder des Collège. Neben den exzessiven Festen, den Opfern, den Tabubrüchen, den Verausgabungen und gewaltvollen Zerstörungen war auch die Thematik der Geheimgesellschaften von großem Interesse. Wurde dieses Interesse in der Geheimgesellschaft Acéphale als wesentlich untheoretische, aber ritualsierte soziale Praxis ausgeübt, so bot das Collège die öffentliche Plattform, über Geheimgesellschaften wissenschaftlich zu reflektieren, wie beispielsweise in der Sitzung vom 19. März 1938: Wie so oft war Roger Caillois erkrankt und Bataille hielt an seiner Stelle den Vortrag zu »Confréries, ordres, sociétés secrètes, églises« (Caillois 1995a). Bataille, der deutlich seine eigenen Gesichtspunkte in das Referat einbringt, differenziert dort zwischen zwei Arten von Geheimgesellschaften. So müssen nicht nur junge von alten Gesellschaften unterschieden werden, sondern insbesondere gelte:

«Il faut encore distinguer entre celles des ›sociétés secrètes‹ dont la fonction touche au changement de l’existence généralement et celles que Marcel Mauss désigne sous le nom de ›sociétés de complot‹. Les sociétés de complot ne sont d’ailleurs pas particulières à la civilisation avancée: on les trouve aussi bien dans les royaumes arrières de l’Afrique noire. Et il est souvent difficile de les distinguer des autres, car il est toujours possible à une ›société secrète‹ purement existentielle de complotter. [...] Il semble donc nécessaire de réserver le nom ›société de complot‹ à celles des sociétés secrètes qui se forment expressément en vue d’une action distincte de leur existence propre: en d’autres termes qui se forment pour agir et non pour exister.» (Bataille in Caillois 1995a: 239f)

Beeinflusst vom deutschen Existentialismus (Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger) (vgl. Hollier 1995: 240) betont Bataille den wesentlich existentiellen Charakter von Geheimgesellschaften; Geheimgesellschaften haben in erster Linie weder ein bestimmtes Ziel noch irgendeinen bestimmten Nutzen. Ihr Sinn liegt Bataille zufolge einfach in ihrem Existieren, in ihrem Sein – die Geheimgesellschaft wird nicht in erster Linie konstituiert, um zu handeln, sondern um zu sein; es dreht sich um nichts weniger als um die »totale Existenz«.

In dieser Perspektive unterscheidet sich Bataille von Caillois: Letzterer spricht Geheimgesellschaften einen wesentlich politischeren Aspekt zu als Bataille, der wiederum eher den mythischen Charakter hervorhebt. Beide Sichtweisen auf Geheimgesellschaften weichen von der Definition ab, die Marcel Mauss den Geheimgesellschaften gegeben hat; Mauss zufolge haben die Geheimgesellschaften eine bestimmte Funktion. In seinem »Manuel d’ethnographie« heißt es unter dem Abschnitt zu den Geheimgesellschaften: »Sociétés secrètes. – La société secrète est secrète par son fonctionnement; mais sa fonction est publique, son action est toujours à quelque degré publique. Ses membres appartiennent à divers clans et les grades à l’intérieur de la société recoupent les divisions entre clans. [...] La question se posera de la légalité ou de l’illégalité de la société secrète. La façon dont nous interprétons trop généralement la société secrète comme hostile à l’État est une erreur. Nous nous figurons toujours les sociétés secrètes du point de vue de notre société. Ce sont en e_et en partie des sociétés de complots, mais qui jouent une fonction régulière. […] La société secrète joue un rôle important dans la vie religieuse : un rôle public et un rôle secret. Très souvent, les peines édictées sont infligées par magie. A l’intérieur de la société existe normalement un culte de confrérie.« (Mauss 1926-1929: 129 ff.)

Den eben angeführten Unterschied zu Mauss’ Perspektive auf Geheimgesellschaften im Gegensatz zum Collège markiert Bataille in seinem Vortrag anhand eines Briefes von Marcel Mauss an Élie Halévy, in dem Mauss seine Definition von Geheimgesellschaften und seine Abneigung gegenüber denselben expliziert hatte. [37] Mauss führt im Brief aus, dass die Doktrin der »minorités agissantes« der anarcho-syndikalistischen Zirkel in Paris, die Doktrin der Gewalt und des Korporatismus sowohl Sorel als auch Lenin mit Mussolini verbinde. Und er fügt hinzu: »Le corporatisme chrétien-social autrichien, devenu celui de Hitler, est d’ un autre ordre à l’origine; mais enfin, copiant Mussolini, il est devenu du même ordre.« (Mauss in Hollier 1995: 848).

Mauss sieht in Geheimgesellschaften Komplottgesellschaften, Bataille hingegen so genannte existentielle Gesellschaften; während erstere sich von einem politischen Ziel her begründen, so letztere zunächst einmal nur von ihrem Willen, zu sein (vgl. Mattheus 1984: 394). Die Kennzeichnung der Collègiens als »Zauberlehrlinge« durch Alexandre Kojève verweist darauf, dass Bataille und seine Freunde die Geister, die sie heraufbeschworen – gemeint sind die am Collège verbreitete Gemeinschaftsmanie – nicht mehr in ihrer Gewalt hatten und sie mit Staunen und Verwunderung auf die realhistorischen gesellschaftlichen und politischen Prozesse, deren Teile sie selbst waren, blickten, ohne sie zu beherrschen.

Mauss’ Erben?

Die Mitglieder des Collège de Sociologie sind Erben von Mauss (vgl. Mürmel 1997: 220). Mauss selbst allerdings war erschrocken darüber, mit Hilfe von Geheimgesellschaften die moderne Gesellschaft und ihre Kultur zu verändern noch billigte er die Rezeption seines Essays über die Gabe. Die Hypostasierung des linken Sakralen und der Irrationalität durch das Collège widersprachen seinem Beharren auf Einhaltung rational überprüfbarer Analysestandards und seiner Untersuchung von gesellschaftlichen Totalphänomenen, die eben nicht nur religiöse, sondern auch ästhetische, juristische, morphologische, politische und ökonomische Aspekte umfassen. Auch Mauss’ politische Vorstellungen waren von denen des Collège weit entfernt; ihm ging es nicht um eine Bildung neuer Gemeinschaften, sondern, geprägt von Jean Jaurès’ reformsozialistischen Ideen, vielmehr um korporative Solidarität fördernde und einhaltende Maßnahmen sozialer und ökonomischer Sicherung. Besonders deutlich wird seine Kritik an den thematischen Schwerpunkten des Collèges und dessen Irrationalismus in einem Brief an seinen Schüler Roger Caillois, anlässlich der Sendung des soeben erschienenen Buches »Le mythe et l’homme«. Am 22. Juni 1938 antwortet ihm Mauss (vgl. Mauss 1990): Caillois sei ein Opfer des Irrationalismus Heideggers und Heideggers Philosophie wiederum legitimiere den in den Irrationalismus vernarrten Hitlerismus. Hier der letzte Abschnitt des Briefes in extenso:

«Mais ce que je crois un déraillement général, dont vous êtes vous-même victime, c’est cette espèce d’irrationalisme absolu par lequel vous terminez, au nom du labyrinthe et de Paris, mythe moderne, – mais je crois que vous l’êtes tous en ce moment, probablement sous l’influence de Heidegger, Bergsonien attardé dans l’hitlérisme, légitimant l’hitlérisme entiché d’irrationalisme –, et sourtout cette espèce de philosophie politique que vous essayez d’en sortir au nom de la poèsie et d’une vogue sentimentalité. Autant je suis persuadé que les poètes et les hommes de grande éloquence peuvent quelquefois rythmer une vie sociale, autant je suis sceptique sur les capacités d’une philosophie quelconque, et sourtout d’une philosophie de Paris, à rythmer quoi que ce soit. Au bref je ne vous crois pas philosophe, pas même de métier. Croyez-mois, restez dans votre sphère de mythologue. C’est au coin qu’on rencontre de nouvelles choses, mais il faut faire du chemin hors des routes.

Bon courage, bonne défense de vous-même. A bientôt.
Bonne poignée de main.

Mauss» (Mauss 1990: 87)

Sowohl das Collège de Sociologie als auch Mauss erhofften sich von ihren Analysen des »primitiven« Sakralen bzw. des »primitiven« Gabentauschs konkrete politische Umsetzungen für die moderne Gesellschaft. Ihre Strategien unterschieden sich jedoch radikal. Mauss wollte weder von einer Wiederbelebung der Mythen noch von Strategien kollektiver Efferveszenz etwas wissen. Er verfolgte vielmehr eine rationale Konzeption von Politik als erzieherische Praxis (vgl. Chiozzi 1983, 658). [38] Die Politik ist nach Mauss eine rationale Aktion, da »ihr jede Form von Spontaneismus und Improvisation widerstrebt, wie sie auch mystische und dogmatische Formen vermeidet, sondern sich von einer wissenschaftlichen Erklärung der Fakten leiten läßt.« (Chiozzi 1983, 660) Mauss selbst begriff sich als eine Art Organisator und Erzieher, der politische Aktivität als pädagogische Verpflichtung lebt. Die Soziologie kann seiner Ansicht nach die Menschen zwar nicht glücklich machen, aber sie sei das wichtigste Mittel, um die Gesellschaft zu erziehen (»la sociologie n’est que le moyen principal d’éducation de la société« (Mauss 1969, 245)). [39]

Das Ende des Collège wurde eingeläutete durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und interne Streitigkeiten. Caillois vermisste zusehends die politische Aktivität der Collègiens. Und Leiris kritisierte, das Collège habe das Sakrale so hypostasiert, dass es fast zum alleinigen Erklärungsprinzip von Gesellschaften erhoben wurde. Dies stehe aber im Widerspruch zur modernen Soziologie und insbesondere zu Mauss’ Begriff des sozialen Totalphänomens, das nicht nur religiöse, sondern zugleich juristische, wirtschaftliche und ästhetische Phänomene umfasst. [40]

Die Bedeutung des Collège für die heutige Gesellschaftsanalyse liegt trotz zahlreicher Kritik, die man an seinen kaum empirisch gesättigten Analysen und unausgereiften Methoden ziehen muss, vor allem darin, dass es ähnlich wie Marcel Mauss auf die religiösen Phänomene in den gegenwärtigen Lebenswelten, Gemeinschaften und Gesellschaften aufmerksam macht. Die Collègiens verfolgen somit ein Ziel von Mauss, denn sie zeigen auf, wie im alltäglichen Leben religiöse Phänomene, stammesartige Vergemeinschaftungen (Maffesoli) und nicht-rationale Handlungen eine zentrale Rolle spielen, mithin sogar für die moderne Gesellschaft konstitutiv sind. Mauss meinte selbst, dass es irrationale Dimensionen im Recht, in der Sprache und selbst in der Technik gebe (vgl. Mauss 1997: 542). Zwar führt kein direkter Weg von Mauss zum Collège, aber durch die Collègiens bekommt man ebenso wie durch Mauss einen geschärften Blick dafür, dass sakrale Dinge und Orte sowie sakral aufgeladene soziale Felder und Praktiken auch in modernen Gesellschaften virulent sind. Hierin sind sie die Erben von Mauss.

Literatur
Bataille, G. (1970), Œuvres complètes I, Paris.
Bataille, G. (1987), Lettres à Roger Caillois. 4 août 1935 - 4 février 1959. Présentées et annotées par Jean-Pierre Le Bouler. Préface de Francis Marmande, Paris.
Bataille, G. (1995a), Attraction et répulsion. I. Tropismes, sexualité, rire et larmes, in Hollier (1995), S. 120–142.
Bataille, G. (1995b), La joie devant la mort, in Hollier (1995a), S. 729–745.
Bataille, G. (1997), Theorie der Religion, München.
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Biographical Note:

Stephan Moebius, Prof. Dr. habil., is professor of sociology at the Max Weber Center for Advanced Cultural and Social Studies at the University of Erfurt, Germany (Le Centre Max-Weber en sciences culturelles et sociales de l’université d’Erfurt).
Mail to: stephan.moebius@uni-erfurt.de
Web: www.stephanmoebius.de


Stephan Moebius est notamment l’auteur d’une biographie de Marcel Mauss.


// Article publié le 16. März 2008 Pour citer cet article : Stephan Moebius , « Die sozialen Funktionen des Sakralen, Marcel Mauss und das Collège de Sociologie », Revue du MAUSS permanente, 16. März 2008 [en ligne].
https://journaldumauss.net/./?Die-sozialen-Funktionen-des
Notes

[1Der folgende Beitrag ist ein erweitertes und um wenige Details aktualisiertes Kapitel aus dem Buch Gift – Marcel Mauss‘ Kulturtheorie der Gabe, das ich 2006 zusammen mit Christian Papilloud im VS-Verlag (Wiesbaden) herausgegeben habe. Weitere Autoren des Bandes sind u.a. Alain Caillé, Marcel Fournier, Francis Farrugia, Matthias Waltz, Aldo Haesler. Der Beitrag basiert ferner auf Marcel Mauss (Moebius 2006a) sowie auf dem Kapitel »Marcel Mauss« aus meinem Buch Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (Moebius 2006b).

[2Betrachtet man die Epoche der Dritten Republik in Frankreich, so lassen sich nach Winock (1989) und Beilecke (2003) mehrere Generationszusammenhänge oder »Schicksalsgemeinschaften« (Mannheim) von Intellektuellen unterscheiden : Die »Génération de l’Affaire Dreyfus«, innerhalb derer der Kampf für Menschenrechte und für die Republik prägend war, die »Génération d’Agathon«, geprägt von den »Nachhutgefechten« der Dreyfus-Affäre (vgl. Lepenies 2002: 50) und den Angriffen sowohl auf die Republik als auch auf die »parti intellectuel« sowie die Neue Sorbonne und die Soziologie, die »Génération du feu«, zu der die Generationseinheit der Surrealisten und mit ihnen auch manche Mitglieder des Collège gezählt werden können und für die der Erste Weltkrieg ein prägendes Moment war sowie die »Génération de la crise«, eine Generation von Intellektuellen wie etwa Emmanuel Mounier, »die den Krieg nicht mehr selbst erlebt haben und im Rahmen der ›crise des années trente‹ an Debatten beteiligt waren, die in kritischer Weise die Effizienz und Legitimation der parlamentarisch-demokratischen Republik in Frage stellten.« (Beilecke 2003: 50). Die Mitglieder des Collège setzen sich als spezifische Generationseinheit aus den beiden letztgenannten Generationszusammenhängen zusammen, die man gemeinhin als non-konformistische Intellektuelle oder als non-konformistische Generation bezeichnet (vgl. Loubet del Bayle 1987).

[3Nachdem Lewitzky aus seiner Heimat in der Nähe Moskaus über die Schweiz nach Paris geflüchtet war, erlangte er dort seinen Studienabschluss am »Institut d’Ethnologie« und studierte Religionswissenschaften bei Mauss an der »École pratique des Hautes Études« (vgl. Hollier 1995: 577). Diese Seminare am EPHE besuchte auch Roger Caillois. Lewitzky bereitete kurz vor Kriegsbeginn noch eine »thése« über Sibirischen (sibirischen?) Schamanismus bei Mauss und René Grousset vor. Über Schamanismus referierte er auch in zwei Sitzungen im März 1939 beim Collège. Lewitzky hatte wenige Jahre zuvor an dem Seminar »Leçons sur la cosmologie dans l’Asie du nord-est« teilgenommen, das Marcel Mauss (1974: 185 ff.) in den Jahren 1932-1937 nahezu zeitgleich mit dem Seminar über die (p?)Polynesische Kosmologie (1932-1938) durchführte. Mauss schrieb 1934/1935 über die Teilnahme Lewitzkys: »M. Levitsky a fait trois excellentes conférences sur le shamanisme yakout, s’aidant de tous les documents russes et traitant en particulier des beaux costumes des chasseurs qu’il a pu étudier au Trocadéro. Le shamanisme ou la lévitation en particulier – trait particulier de toutes ces civilisations (arctiques et aussi eskimos et de nombre de société américains) – a paru lui aussi ranger les mythes de ces peuples assez haut parmi les autres.« (Mauss 1974: 186) Leiris und Lewitzky waren auch bei einer der Nummern der »Annales sociologiques« beteiligt: »seul le quatrième et dernier fascicule contient des comptes rendus rédigés notament par des élèves de Mauss (Michel Leiris, Anatole Lewitzki, Jacques Soustelle).« (Heilbron 1985: 224) Lewitzky engagierte sich später in der Résistance, wurde 1941 von der SS gefangen genommen und am 23. Februar 1942 erschossen (vgl. Hollier 1995: 579). Siehe auch den Beitrag »Anatole Lewitzky. De l’ethnologie à la résistance« von Patrick Ghrenassia (1987). Vgl. auch Hollier (1995a: 580). Ein anderer Eintrag von Mauss aus den Seminaren von 1936/1937 lautet: »M. Levitsky a continué ses travaux sur les Goldes par une excellence étude du shamanisme golde et de la mythologie de ce shamanisme. Nous avons pu y ajouter nous-mêmes quelques observations sur la cosmologie que tout ceci suppose.« (Mauss 1974: 187).

[4Zu „Contre-Attaque“ vgl. Moebius (2003a): Contre-Attaque – eine politische Initiative französischer Intellektueller in den 30er Jahren, in: „Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts“ (neue Folge von „1999“), hrsg. von der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Heft 2, 18. Jhrg., Bern, Juni 2003, S. 85-100.

[5Zur Situation der Dritten Republik und der Durkheim-Schule in den dreißiger Jahren siehe Moebius (2006b).

[6Carl Einstein (1885-1940) war ein Freund von Leiris und Bataille, Benn, Pfemfert, Sternheim sowie von Pablo Picasso. Er war Herausgeber der »Neuen Blätter«, arbeitete mit bei der »Aktion«, am »Pan« und an den »Weißen Blättern«; 1919 Mitherausgeber der Dada-Zeitschrift »Der blutige Ernst«. 1928 nach Paris emigriert, wird Einstein Anhänger des Surrealismus. Seine Kunsttheorie wurde jedoch erst mit Verspätung in Frankreich rezipiert (1934). Die Weltwirtschaftskrise und die nationalsozialistische Machtergreifung ruinierten den freien Schriftsteller. Während des Spanischen Bürgerkriegs schloss sich Einstein der CNT an. 1939 kehrt er nach Frankreich zurück und wurde dort gefangen genommen. Auf der Flucht vor der deutschen Armee, nahm er sich 1940 bei der spanischen Grenze bei Pau das Leben (vgl. Peter 1972: 208f).

[7Bernd Mattheus hat die zahlreichen Mitglieder in der Biographie Batailles aufgelistet. Andere Mitarbeiter sind nach Mattheus (1984, 132): Georges Wildenstein, Jean Babelon, Dr. G. Contenau, Pierre d’Espezel, Raymond Lantier, Paul Pelliot, Dr. Reber, Dr. Paul Rivet, Georges-Henri Rivière, Josef Strzygowsky, Marcel Griaule, André Schaeffner, Hedwig Fechheimer, Dr. Henri Martin, Emil Waldmann, Arnaud Dandieu, Henry-Charles Puech, Paul Pelliot, Michel Leiris, Dr. Pierre Menard, Jacques Baron, Georges Limbour, Jacques Prévert, Alejo Carpentier, Roger Gilbert-Lecomte, Raymond Queneau, Robert Desnos, Roger Vitrac, Eli Lotar, Jacques-André Boiffard und Karl Blossfeldt. Michel Leiris schreibt in seinem Text »Von dem unmöglichen Bataille zu den unmöglichen Documents« im Jahre 1963: »Durch die Publikation der Documents sah sich Bataille zum ersten Mal in der Position des Anführers einer Gruppe. Obwohl er bei weitem keine unkontrollierte Macht ausübte, erscheint diese Revue heute nach seinem Bilde gefertigt. […] Die Mitarbeiter kamen aus den verschiedensten Umkreisen, denn neben Schriftstellern der vordersten Linie – die meisten waren um Bataille versammelte Überläufer des Surrealismus – fanden sich Vertreter sehr unterschiedlicher Disziplinen […].« (Leiris 1981: 70f)

[8Zum Folgenden sei auch auf die instruktive Einführung zu Marcel Mauss von Heinz Mürmel (1997) verwiesen, der ebenfalls auf die Bedeutung von Mauss, Hubert und Hertz für das Collège aufmerksam macht: »Das sacré als zentrale soziale und religiöse Kategorie wird die Durkheimianer (besonders, neben Mauss, Robert Hertz und die Gründer des Collège de Sociologie, Bataille, Caillois und Leiris) immer wieder beschäftigen.« (Mürmel 1997: 214) Teilweise wurden seine kurzen Hinweise im Folgenden als Folie und Orientierungslinien benutzt, um die Zusammenhänge zwischen Mauss’ Schriften und dem Collège zu erläutern. Siehe zu weiteren Hinweisen Mürmel (1997: 216, 220f). Zu Hubert und Hertz siehe auch den Text von François A. Isambert (1983) »At the frontier of folklore and sociology: Hubert, Hertz and Czarnowski, founders of a sociology of folk religion«.

[9Bataille greift auf den Opfer-Essay in einem 1930 verfassten Artikel in der Zeitschrift »Documents« zurück, der den Titel trägt: »La mutilation sacrificielle et l’orielle coupée de Vincent Van Gogh« (Bataille 1970: 258 ff.).

[10Bataille wusste dies nur zu gut, als er bei einem Treffen seiner Geheimgesellschaft Acéphale vorschlug, dass man ihn töten bzw. opfern solle.

[11Dieser von Mauss beschriebene Effekt des Symbolismus der Gabe, des Opfers etc. erinnert an die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe beschriebene soziale Logik der Differenz und der Äquivalenz (vgl. Moebius 2003c). Die Gabe, das Opfer oder das Tabu sind gleichsam Symbole des Symbolischen.

[12Der Vortrag Caillois’ über die »Ambiguität des Sakralen« vom 15. November 1938 nimmt hier neben Durkheims Studien auf diejenigen von Mauss und Hubert Bezug.

[13Aber, so fragen sie sich, werden die magischen Praktiken nicht im Vergleich zu religiösen nur von Individuen vollzogen? Inwieweit ist das wesentlich kollektive Sakrale dann mit der individualistischen Magie verknüpft? »Wir stehen vor einem Dilemma: Ist die Magie kollektiv oder ist der Begriff des Heiligen individuell? Um dieses Dilemma aufzulösen, müssen wir untersuchen, ob sich die magischen Riten in einem sozialen Milieu abspielen; wenn wir nämlich in der Magie ein solches Milieu feststellen können, werden wir eben dadurch bewiesen haben, daß ein Begriff sozialer Natur wie der des Heiligen in der Magie eine Funktion haben kann, und es wird dann bloß noch ein Spiel sein zu zeigen, daß er dort in Wirklichkeit eine Funktion hat.« (Mauss und Hubert 1999: 178)

[14Die Einflüsse der »Théorie des mythes« von Mauss und Hubert (Mauss 1968, Bd. 2.: 269 ff.) auf das Mythosdenken des Collège kann an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden, siehe dazu aber Moebius (2006b).

[15Zu dieser Stelle, die Caillois von Mauss übernommen hat und Mauss von Boas, vgl. Mauss und Beuchat (1999 [1904-5]: 272).

[16Vgl. zu den verschiedenen Phasen des gesellschaftlichen Lebens auch Durkheim (1981: 295 ff.).

[17Zu Caillois’ Vortrag siehe auch Hinweise in Keller (2001: 154f) und Keller (1998: 533).

[18Wie dem Briefwechsel zwischen Bataille und Caillois zu entnehmen ist (vgl. Bataille 1987: 94, 103).

[19Vgl. die Seiten 224 und 239 in Granets Buch »Fêtes et chansons anciennes de la Chine« (1919). Granet glaubte jedoch daran, dass sich das chinesische Denken wesentlich von dem westlichen Denken unterscheide, hierin war er den Vorstellungen über die Unterschiede zwischen dem Denken der Primitiven und der Modernen von Lévy-Bruhl näher als den Annahmen Durkheims, der ja davon ausging, dass zum Beispiel die elementaren und in primitiven Gesellschaften zu findenden Formen des religiösen Lebens auch noch in den modernen Formen zu finden seien. Vgl. dazu auch W. Paul Vogt (1981: 297) und Hubert Knoblauch (1999: 60).

[20Bataille wurde 1925 von Alfred Métraux auf Mauss’ Gabe hingewiesen (vgl. Fournier 1994: 707). Vgl. auch die biographischen Ausführungen in Mattheus (1984: 238 ff.). Mattheus zitiert dort Métraux, der erzählt, wie die Ausführungen über den Potlatsch bei Bataille Freude und Vergnügen auslösten. Zu besonderen Rolle von Alfred Métraux für den ethnologischen Werdegang von Michel Leiris vgl. dessen Beitrag zu Métraux in Leiris (1981: 62-66).

[21Natürlich ist diese Einschätzung von Lévi-Strauss auch eine sehr persönliche Perspektive, wie Gurvitch einmal zu Recht feststellte.

[22Beispielsweise betont Mauss (1999a: 54), dass neben dem melanesischen Gabentauschsystem des Kula, den er als »großen potlatch« betrachtet, eine ganz andere Form von Austausch, der gimwali, besteht. Dieser dient v.a. dem einfachen Austausch nützlicher Dinge und zeichnet sich »durch hartnäckiges Feilschen beider Parteien aus, ein des Kula unwürdiges Verfahren« (ebd.: 55).

[23Dieses Beispiel findet sich bei Mauss (1969: 19).

[24In einer Fußnote seines 1938 publizierten Textes Über den Begriff der Person und des »Ich« schreibt Mauss, dass er im Essay über die Gabe die Tatsache nicht nachdrücklich betont habe, »dass der Potlatsch neben dem Austausch von Männern, Frauen, Erbgütern, Verträgen, Gütern und rituellen Leistungen, zunächst natürlich von Tänzen und Initiationen, noch viel mehr einschließt: Ekstasen und Besessensein von ewigen und reinkarnierten Geistern.« (Mauss 1989b: 231)

[25Ein besonders eingehendes Beispiel dieser Vermischung von Person und Sache ist die Gabe von Muttermilch: »Sofern die erste Nahrung, die das Subjekt aufnimmt, die von einem anderen gegebene und eingeführte Nahrung ist, lässt sie sich nicht auf ein ›Etwas‹ beschränken […]. Die mit der Einführung der Brust in den Mund eingeflößte Milch ist kein bloßes Nahrungsmittel […].« (Därmann 2005: 631 f.)

[26Hier wird aus der französischen Ausgabe übersetzt, da die deutsche Version von Mauss (1999a: 52) nur die Hälfte des Satzes wiedergibt.

[27Zu dieser Figur des »Anderen in mir« in anderen Theoriekontexten vgl. Moebius (2003c). Diese Einverleibung des Anderen legt den Gedanken an kannibalistische Praktiken und ihre Sublimierung durch das Gaberitual nahe, denn in der Gabe geht es wesentlich auch immer um die Gabe von Nahrung. »Dass die dargereichten Speisen und Getränke vom Empfänger unmittelbar einverleibt werden, erhält vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Geben auch immer ein Sich-selbst-Geben, die Hin- und Preisgabe der gebenden Person bedeutet, eine über die bloße Stillung des Hungers hinausgehende und mit der Institution der Gastfreundschaft aufs engste verbundene Konnotation. Sie kann nichts anderes besagen, als dass sich der Geber selbst in der Trank- und Speisegabe dem Beschenkten zu trinken bzw. zu essen gibt.« (Därmann 2005: 104)

[28An der Stelle, wo der Begriff der »reciprocité« ein einziges Mal fällt, bezeichnet er genau die überkreuzte Inbesitznahme, ein »im Nehmen genommen werden« (vgl. Schüttpelz 2005: 183 ff.).

[29Statt den Begriff der Besessenheit könnte man auch (wie im Text) von Ergriffen-Werden oder wie der Ethnologe Fritz Kramer von »passiones« sprechen.

[30Dieser Zusammenhang und eine daraus folgende Kritik an Lévi-Strauss und Sahlins kann hier jedoch nur angedeutet werden und wird in einer größeren Studie ausführlich behandelt.

[31Vgl. dazu Mauss‘ Aufsatz Über den Begriff der Person und des »Ich« (Mauss 1989b: 221-252). Zu Mauss‘ Geschichte des Personenbegriffs siehe auch Dumont (1991) sowie Carrither et al. (1985).

[32Er fragt sich in diesem Zusammenhang: »Aber sind diese Unterscheidungen [zwischen Personenrecht und Sachenrecht, S.M.] nicht relativ jungen Datums in den Rechtssystemen der großen Kulturen? […] Haben sie diese Bräuche des Gabentauschs, wo Personen und Sachen miteinander verschmelzen, nicht selbst praktiziert?« (Mauss 1999a: 120 f.)

[33Mauss denkt beispielsweise an Sozialversicherung, Gastfreundschaft, das Genossenschaftswesen, in dem er sich engagierte, oder »gegenseitige Fürsorge der Berufsgruppen«.

[34Zu Mauss‘ politischen Engagement und zu seinen politischen Schriften vgl. Mauss (1997), Moebius (2006a), Dzimira (2007).

[35»Soweit er nicht in reiner Zerstörung besteht, macht die Pflicht des Erwiderns das Wesen des Potlatch aus.« (Mauss 1999a: 100)

[36Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von Thomas Keller (2001: 91).

[37Der Brief findet sich auch im Werk über Marcel Mauss von Marcel (Fournier 1994: 680 f). Ein kommentierter Auszug aus dem Brief ist in Hollier (1995a: 847-851) abgedruckt.

[38Die politischen Schriften von Mauss (1997) sind leider noch nicht ausführlich bearbeitet und interpretiert worden. Hier gilt es einiges nachzuholen. Die wenigen verfügbaren und erwähnenswerten Arbeiten sind die Einleitung in seine politischen Schriften von Marcel Fournier (1997), »Marcel Mauss: Eine anthropologische Interpretation des Sozialismus« von Paolo Chiozzi (1983), »Avertissement d’un sociologue à son public« von Henri Desroche (1978) und »Marcel Mauss: ›Citoyen‹ et ›Camerade‹. Ses incursions écrites dans le domaine du normatif« (Desroche 1979), »Du socialisme du don« von Pierre Birnbaum (1972) und »Entre l’ethnocentrisme et le marxisme« von Terrail (1972).

[39Im Übrigen lässt sich Mauss Begriff des sozialen Totalphänomens zuerst in einer seiner politischen Schriften entdecken: In seiner ersten politischen Arbeit vom Oktober 1899 »L’Action socialiste«, die vom Titel her an Jaurès’ im Juli 1899 geprägten Begriff der »L’action socialiste complète« erinnert (vgl. Chiozzi 1983, 660, 676).

[40Zum Ende des Collège und zu den unterschiedlich Streitpunkten siehe Moebius (2003b): „Homme de la science, homme de l’action, homme du mythe. Die internen Krisen des Collège de Sociologie (1937-1939) und die Tage danach“. In: Asholt, W./Bock, H.M. (Hg.): Lendemains. Études comparées sur la France / Vergleichende Frankreichforschung, Heft 110/111, 28. Jhrg., Tübingen 2003a, S. 162-179.

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